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Dienstag, 21. April 2009

Rückzug aus Tschetschenien?


Eine der interessantesten Meldungen der vergangenen Wochen aus Osteuropa lautete: "Moskau will sich offenbar aus Tschetschenien zurückziehen". Die dahinterstehende Wirklichkeit ist allerdings weit weniger spektakulär und so lasen sich die Berichte vom letzten Donnerstag auch schon nüchterner.
Was ist denn nun wirklich passiert? Das Anti-Terror-Komitee der Rußländischen Föderation hat zwei Anordnungen Präsident Jelzins aus dem Jahr 1999 aufgehoben, mit denen erstens die Republik Tschetschenien zu einer Anti-Terror-Zone erklärt worden war, in der die Sicherheitsbehörden besondere Befugnisse hatten, und zweitens eine besondere Gruppierung der Streitkräfte gebildet worden war.
Welche direkten Folgen haben diese Maßnahmen? Die rechtliche Sonderstellung Tschetscheniens, die sich invielen Details gezeigt hatte, ist beendet und der größte Teil der dort stationierten 20.000 Soldaten und föderalen Polizeikräfte wird demnächst abgezogen werden. (Der Abzug erscheint der Regierung auch aus finanziellen Gründen geboten, schließlich ist der Unterhalt eines solchen Kontingents nicht ganz billig.)

Die russischen Tageszeitungen Wremja Nowostej und Wedomosti kommentieren das Ereignis wie folgt:
"[...]

Das in der Tschetschenischen Republik im September 1999 eingeführte Regime der Antiterror-Operation ist ab 16. April aufgehoben worden, schreiben russische Zeitungen am Freitag.
Formal wird sich Tschetschenien bis Ende 2009 endgültig in die üblichen russischen Regionen einreihen.

Die groß angelegten Kampfhandlungen in Tschetschenien hörten 2001 auf. Seit 2003 hat die Republik einen Moskau genehmen Präsidenten, eine Verfassung, die festlegt, dass die Republik zu Russland gehört, ein Parlament und Gerichte. Jetzt kommt ein System von Kommunen hinzu. Zum Teil ist das eine Art Ritual: Hätten die tschetschenischen Dörfer keine reale Selbstverwaltung gehabt, hätten sie den Krieg nicht überlebt.
Wie es sich für eine regionale gesetzgebende Versammlung in Russland auch gehört, unterstützt das Parlament jede Initiative von Präsident Ramsan Kadyrow. Nur dass der Grad der inneren Selbstständigkeit des tschetschenischen Präsidenten über dem Freiheitsgrad eines jeden anderen regionalen Leiters in Russland liegt.
In Tschetschenien selbst besteht die Meinung, das sei ein gerechter Tribut an die "besonderen Bedingungen der Wiederherstellung". In anderen Regionen wird Tschetschenien im Stillen beneidet.

Die etatmäßige Versorgung je Einwohner ist in der Republik doppelt so hoch wie der Durchschnitt im Südlichen Föderalen Bezirk. Russland hat in Tschetschenien bereits bedeutende Geldmittel investiert.
Im Rahmen des föderalen Zielprogramms für die Wiederherstellung der Wirtschaft und der sozialen Sphäre Tschetscheniens 2002 - 2006 hat der Fiskus 30,6 Milliarden Rubel bereitgestellt (1 Euro entspricht etwa 44 Rubel). 2007 erhielt die Republik weitere 11,9 Milliarden Rubel, das laufende Hilfsprogramm für den Zeitraum 2008 - 2011 sieht 111 Milliarden Rubel vor.
Bisher haben sich diese Anlagen nicht adäquat rentiert. Die Durchschnittslöhne sind in der Republik (laut Angaben des russischen Statistikamts 11 490 Rubel) höher als in den meisten Nachbarregionen, aber auch die Arbeitslosigkeit ist hoch (2008: ca. 50 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung). Vergleichbare Kennziffern weist nur Inguschetien mit seinen 45 bis 48 Prozent auf, in Dagestan sind es 16 Prozent, in den übrigen Regionen weniger.

Das Projekt "Kadyrow" (zuerst Achmat, dann sein Sohn Ramsan), das das föderale Zentrum 1999 einleitete, ist absolut erfolgreich. Der Krieg gegen die eigenen Bürger wird den russischen Delegationen nicht mehr bei jedem internationalen Treffen aufs Brot geschmiert. Die russische Armee ist von ihrer Last befreit worden, wenn man natürlich von den Spezialeinheiten absieht, die ab und zu ins Gebirge entsandt werden, um gegen die Extremisten von Umarow zu kämpfen.

[...]"
(Ausführlich dazu auch dieser Artikel von Dmitrij Babitsch; eine Bilderreihe zum Thema ist hier zu finden.)



Die Entscheidung vom 16. April ist das Ergebnis einer jahrelangen Entwicklung, mit der wieder ein Minimum an Normalität erreicht worden ist.
Nachdem sich die ethnischen Tschetschenen im ersten Krieg (1994 - 1996) eine weitreichende Autonomie innerhalb des Staatsverbandes der RF erkämpft hatten (der Vertrag wurde damals von Alexander Lebed mit ausgehandelt), ist im Land in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre der Islamismus immer weiter vorgedrungen. Er gipfelte in Forderungen nach der Errichtung eines Gottesstaates und der Vertreibung aller Ungläubigen aus dem Nordkaukasus. Derartige Ideen lassen sich allerdings kaum auf dem Weg des politischen Kompromisses durchsetzen.

Und so hat denn auch der tschetschenische Feldkommandeur Schamil Bassajew am 7. August 1999 mit rund 1500 bewaffneten Glaubenskriegern die Grenze zur Nachbarrepublik Dagestan überschritten, um den Dschihad im Namen Allahs zu führen. Dieses Ereignis (und nicht die Anschläge auf Wohnhäuser in Moskau und anderen Orten) waren der Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges, denn zur Abwehr der für einen "Low Intensity Conflict" erheblichen Anzahl von Kämpfern mußten größere Polizei- und Militäreinheiten nach Dagestan entsandt werden. (Komisch nur, daß diese Tatsachen in 99 % der „westlichen“ Medienberichte über den Konflikt nicht erwähnt werden, sind sie doch geeignet, das oft gezeichnete Bild der armen und heroischen Kämpfer für Freiheit und Unabhängigkeit zu erschüttern.)
Bis Anfang Oktober konnten die Sicherheitskräfte Dagestan weitgehend von den Eindringlingen säubern, danach wurden sie auf ihr tschetschenisches Rückzugsgebiet verfolgt. Damit hatte der Zweite Tschetschenienkrieg begonnen. Er wurde von den föderalen Sicherheitskräften erheblich professioneller geführt als der erste und so waren die größeren Kampfhandlungen bereits 2001 beendet.

Was folgte, war ein Guerillakrieg in dem sich Teile der Mudschahedin in die unwirtlichen Regionen des Landes zurückgezogen hatten und immer wieder Anschläge verübten. Die spektakulärsten fanden 2002 in Moskau und 2004 in Beslan statt.
Man muß jedoch die Besonderheiten des Kaukasus beachten. Die vielfältigen Loyalitäts- und Konfliktlinien aus ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Verwandtschaftsbeziehungen und machtpolitischen Erwägungen (einschließlich Korruption) haben zu einer grundsätzlich anderen Gemengelage geführt als noch Mitte der 1990er Jahre. Tatsache ist: Bei weitem nicht alle Tschetschenen waren bereit, den Terroristen in ihrem Glaubenskrieg zu folgen. Hier kommt die Familie Kadyrow ins Spiel. Ihre starken Männer, Achmat und Ramsan Kadyrow, waren fähig, sich unter den bewaffneten Männern des Landes Respekt zu verschaffen und eine eigene Miliz aufzubauen. Damit boten sie sich auch als Verbündete der Zentralregierung in Moskau an, die erkannt hatte, daß in diesem Konflikt nur eine "indische Lösung" in Form weitgehender (politischer und rechtlicher) Autonomie und Selbstverwaltung Tschetscheniens Abhilfe versprach. Dafür brauchte man aber einen starken Mann vor Ort – Achmat Kadyrow.

Die weitgehende Befriedung Tschetscheniens ist mithin die Kombination aus einer kriegsmüden Bevölkerung, die mit Kadyrow eine einheimische politische Perspektive erhielt, und der erfolgreichen Arbeit der föderalen Sicherheitskräfte zu verdanken.
An dieser Stelle drängt sich ein Vergleich mit der Tätigkeit der NATO in Afghanistan auf. Während dort bereits im Jahr 2004 mit Hamid Karzai ein Präsident von amerikanischen Gnaden installiert wurde, ist es der von ihm geführten afghanischen Regierung bis heute nicht gelungen, ihre Autorität im Land zu festigen, rivalisierende Personen und Kräfte einzubinden und schlagkräftige Sicherheitskräfte zu formieren. Selbst Karzais Personenschützer sind Ausländer. Verglichen damit erscheint Tschetschenien fast schon als Erfolgsmodell für die Regulierung eines ethnisch-religiösen Konfliktes im islamischen Raum.

Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Terroristen noch nicht besiegt sind (vgl. hier und hier), sondern nur erheblich geschwächt wurden, auch durch mehrere Amnestien. (Fraglich ist zudem, inwieweit ein vollständiger "Sieg" in einem derartigen Konflikt überhaupt realisierbar wäre. Wie definiert man hier überhaupt den Begriff "Sieg"?) Der harte Kern der Kämpfer hat sich in die tschetschenischen Berge zurückgezogen oder ist in die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan ausgewichen, in denen die Aufmerksamkeit der Sicherheitskräfte geringer war und wo heute die Schwerpunkte der terroristischen Aktivitäten liegen. Zu ausgedehnten Operationen wie 1999 sind sie schon lange nicht mehr fähig; neben kleineren Anschlägen auf Polizeistreifen sind sie vor allem damit beschäftigt, ihr eigenes Überleben zu sichern.

Die Befriedung des Nordkauksasus ist für die russische Föderalregierung nicht unproblematisch, etwa im Hinblick auf die Rechtseinheit der RF. Den Bürgern dort müssen ganz erhebliche Zugeständnisse gemacht werden. So ist etwa in Inguschetien seit 2006 während des Fastenmonats Ramadan der Verkauf und öffentliche Genuß von Alkohol ebenso wie das Rauchen in der Öffentlichkeit gesetzlich verboten. Außerdem kommt dem Islam in dieser Region mittlerweile eine recht offiziöse Rolle zu. Und Tschetschenien hat heute, nach dem Ende des gewaltsamen Separatismus, unter Ramsan Kadyrow einen ganz erheblichen Grad an Autonomie und Selbstverwaltung erreicht, welcher in der Rußländischen Föderation einmalig ist. Und von der Föderalregierung wird dieser Zustand auch noch üppig subventioniert.
Das ist in der Tat eine paradoxe Situation.

Der "Tausch" erscheint einfach: Die Muslime dürfen ihrer Religion folgend leben und – fast wie in den "wilden Zeiten" des 18. und 19. Jahrhunderts – ihre "inneren" Angelegenheiten weitgehend selbst und ohne Einmischung aus Moskau regeln, müssen sich dafür aber von religiös motivierter Gewalt und Separatismus fernhalten. Rational betrachtet ist dies eine ordentliche politische Lösung – freilich keine Lösung aus der sterilen ideologischen Retorte der üblichen Kämpfer für "Menschenrechte und Demokratie", sondern eine, die aus den konkreten politischen Verhältnissen entstanden ist. (Deshalb wird in der "westlichen" Presse auch heute noch, als hätte es in den letzten Jahren in Tschetschenien keinerlei Verbesserung gegeben, das angebliche Fehlen einer politischen Lösung bemängelt.)
Fragt sich nur, ob die Menschen des Nordkaukasus damit zufrieden sein werden oder ob der Same des Heiligen Krieges dort neue Früchte trägt.


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Fotos: RIA Nowosti.

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