1. Im Gegensatz zu manchen deutschen Medien muß ich gestehen, daß ich nicht weiß, wer Alexander Litwinenko getötet hat. Und dies bereitet mir weder Unbehagen noch physische Beschwerden. Unvollständige Information ist eher die Regel als die Ausnahme, weshalb ich gedenke, die Ermittlungsergebnisse in aller Ruhe abzuwarten. Die zahllosen, hektisch hintereinander herjagenden und sich ständig widersprechenden Medienberichte während der letzten zwei Wochen sollten auch allgemein zu Ruhe und Besonnenheit raten.
Clausewitz führte über Nachrichten – nicht nur im Kriege – ganz treffend aus:
"Ein großer Teil der Nachrichten, die man im Kriege bekommt, ist widersprechend, ein noch größerer ist falsch und bei weitem der größte einer ziemlichen Ungewißheit unterworfen. […] Diese Schwierigkeit ist nicht unbedeutend bei den ersten Entwürfen, die auf dem Zimmer und noch außer der eigentlichen Kriegssphäre gemacht werden, aber unendlich größer ist sie da, wo im Getümmel des Krieges selbst eine Nachricht die andere drängt; ein Glück noch, wenn sie, einander widersprechend, ein gewisses Gleichgewicht erzeugen und die Kritik selbst herausfordern. Viel schlimmer für den Nichtgeprüften, wenn ihm der Zufall diesen Dienst nicht erweist, sondern eine Nachricht die andere unterstützt, bestätigt, vergrößert, das Bild mit immer neuen Farben ausmalt, bis die Notwendigkeit uns in fliegender Eile den Entschluß abgedrängt hat, der - bald als Torheit erkannt wird, so wie alle jene Nachrichten, als Lügen, Übertreibungen, Irrtümer usw. Mit kurzen Worten: die meisten Nachrichten sind falsch, und die Furchtsamkeit der Menschen wird zur neuen Kraft der Lüge und Unwahrheit. In der Regel ist jeder geneigt, das Schlimme eher zu glauben als das Gute; jeder ist geneigt, das Schlimme etwas zu vergrößern, und die Gefährlichkeiten, welche auf diese Weise berichtet werden, ob sie gleich wie die Wellen des Meeres in sich selbst zusammensinken, kehren doch wie jene ohne sichtbare Veranlassung immer von neuem zurück."
In diesem Sinne sollen nun die Person Litwinenkos und mögliche Motive für seine Tötung kritisch untersucht werden.
2. Zunächst kurz zur Biographie des Opfers (ausführliche Profile sind hier und hier zu finden).
Er begann eine Offizierslaufbahn in den Inneren Truppen des sowjetischen Innenministeriums (dem Äquivalent zur deutschen Bereitschaftspolizei), trat dann 1988 in das KGB über und diente auch nach der Auflösung der UdSSR in einer seiner Nachfolgebehörden, dem russischen Inlandsnachrichtendienst FSB.
Mitte der 90er Jahre war Litwinenko im Tschetschenienkonflikt eingesetzt, dabei soll er 1996 einen gefangenen Tschetschenen zu Tode gefoltert haben. Im gleichen Zeitraum lernte er den Oligarchen Boris Beresowski kennen und galt fortan als dessen Mann im FSB. Im Jahre 1998 behauptete er auf einer Pressekonferenz zusammen mit Kollegen, es habe einen Mordauftrag der FSB-Führung für Beresowski gegeben; später widerrief ein Teilnehmer allerdings diese Aussage und behauptete, Beresowski habe ihnen 1,5 Mio. Dollar dafür gezahlt.
Im Jahre 2000 entzog er sich den russischen Strafverfolgungsbehörden durch seine Flucht nach England - im gleichen Jahr wie sein Gönner Beresowski. Fortan widmete er sich dem Kampf gegen Präsident Putin. Er behauptete in dem 2002 erschienen Buch "Blowing up Russia. Terror From Within", der FSB habe 1999 die Bombenanschläge auf russische Wohnhäuser inszeniert, um einen Anlaß für den zweiten Tschetschenienkrieg zu konstruieren. Ferner soll Putin während seiner Tätigkeit in der St. Petersburger Stadtverwaltung in den 90ern in Drogen- und Edelmetallschmuggel verwickelt gewesen sein. Richtig bizarr wurden seine - unbewiesenen! - Anschuldigungen, wenn er Putin außerdem der Pädophilie bezichtigte oder sich sogar dazu verstieg, die Anschläge vom 07.07.2005 in London der Kreml-Spitze anzulasten.
Zu seinem Londoner Bekanntenkreis zählten auch Exil-Tschetschenen, z.B. Achmed Sakajew, die er auf Vermittlung Beresowskis kennengelernt hatte, der schon seit dem ersten Tschetschenienkrieg informelle Kontakte zu den Separatisten unterhielt. Der gemeinsame Feind war klar: Putin.
Ferner pflegte Litwinenko Kontakte zu weiteren Ex-FSB-Leuten und auch zum italienischen "Sicherheitsberater" Mario Scaramella - alles in allem eine recht dubiose Gesellschaft. Der Tagesspiegel hatte den Toten schon vor drei Jahren kurz aber zutreffend charakterisiert: "Er ist kein objektiver Beobachter der Zeitgeschichte".
Jetzt wurde auch bekannt, daß Litwinenko kurz vor seinem Tod zum Islam konvertiert ist.
Da die von ihm erhobenen Anschuldigungen immer haltloser wurden, sank seine Reputation auch im Westen; in Russland selbst war er - genau wie Anna Politkowskaja - kaum bekannt oder, wenn bekannt, dann wenig beliebt. Er scheint sich über die Jahre ein Weltbild zurechtgezimmert zu haben, in dem Putin für sämtliche Übel dieser Welt direkt oder indirekt verantwortlich ist: von Staatsterrorismus über Organisierte Kriminalität bis hin zu Kinderschändung.
Resümierend wird man Litwinenko wohl als eine undurchsichtige Figur charakterisieren müssen, nicht aber als ' überragenden, mutigen Kreml-Kritiker' oder gar als "Staatsfeind Nr. 1". Dafür waren seine Behauptungen zu wenig substantiiert und seine Bedeutung viel zu gering.
3. Man könnte es nun bei dieser Feststellung bewenden lassen und einfach sagen: 'Der Mann hat im Zwielicht gelebt, er ist auch unter zwielichtigen Umständen gestorben'. Da sich das ganze mittlerweile aber zu einer politischen Affäre ausgeweitet hat, soll hier auch kurz der alle bewegenden Frage "Wer war es?" nachgegangen werden. Allerdings werde ich der Versuchung widerstehen, eine eigene (Verschwörungs-) Theorie zu entwickeln.
(Dabei gehe ich davon aus, daß der geneigte Leser über die bisherige Entwicklung des Falles durch die Presse grob orientiert ist.)
Litwinenko starb an den Folgen der Inkorporation des radioaktiven Stoffes Polonium-210. Nach ersten Meldungen, daß dies ein deutliches Indiz für die Beteiligung einer staatlichen Stelle sei, stellte sich heraus, daß Polonium-210 - zumindest in den USA - ohne größere Restriktionen etwa via Internet erworben werden kann. Also bleiben auch hier konkrete Ermittlungsergebnisse zur Herkunft des Stoffes abzuwarten.
Wenn man weiter die Frage cui bono? stellt, dürfte Putin unter den Verdächtigen schnell ausscheiden, da da er damit planmäßig seine eigene Außenpolitik torpedieren würde.
Bereits der Politkowskaja-Mord hatte Rußlands Ansehen im Ausland erheblich geschadet und Putins Deutschlandbesuch sowie das Vorbereitungstreffen des EU-Rußland-Gipfels in Finnland überschattet. Nun, nachdem sich die öffentliche Aufregung über Politkowskaja gelegt hat (die Medien konnten das Thema nicht ewig am Köcheln halten), wird ein weiterer Putin-Kritiker vergiftet und stirbt "pünktlich" einen Tag vor dem EU-Rußland-Gipfel in Helsinki. Die Konferenz wurde folglich in der Öffentlichkeit nur noch unter dem Blickwinkel seines Ablebens wahrgenommen.
Es war klar, daß die öffentlichen Spekulationen zunächst eine Beteiligung der russischen Regierung bzw. Putins vermuten würden. Nur hätten diese sich mit der Tötung Litwinenkos, obwohl er ein Deserteur war, einen Bärendienst erwiesen, denn der hat nun wie Politkowskaja international eine Popularität erreicht, die beide zu Lebzeiten niemals besessen haben. Und wenn man den Berichten britischer und amerikanischer Medien glauben darf, wurde Litwinenko auch von seinen dortigen Partnern zunehmend als unglaubwürdig empfunden, womit sich - aus russischer Sicht - das Problem seiner öffentlichen Auftritte im Laufe der Zeit von alleine erledigt hätte. "Für Putin gab es keinen Grund, sich die Hände schmutzig zu machen" - auch wenn dadurch manch 'schöne' Theorie hinfällig wird.
Wem nützt der Tod Litwinenkos wie auch Politkowskajas am ehesten? Auf jeden Fall den russischen Anti-Putin-Kräften jedweder Coleur und denjenigen im Westen, die einen neuen Kalten Krieg herbeireden:
"How was Alexander Litvinenko murdered? We don’t know yet; we may never find out, but what is clear is his death marks the start of a new Cold War. The question is how to win it."(Was an diesem Artikel besonders frappiert, ist die Offenheit, mit der auf die genaue Aufklärung von Litwinenkos Tod verzichtet und sofort zum Angriff geblasen wird. Das Schicksal der konkreten Person - Politkowskaja oder Litwinenko - ist egal, beide taugen im Westen scheinbar nur als Symbol zur Rechtfertigung einer bestimmten, rußlandfeindlichen Politik.)
Neben solchen medialen Geisterfahrern verdienen Beresowski und sein weiteres Umfeld eine verstärkte Aufmerksamkeit. Sollte man Litwinenkos Tod Putin anlasten können, so wäre dieser maximal diskreditiert, Rußlands internationale Stellung beeinträchtigt - und damit Beresowskis Position gesichert. Neben politischen Früchten in der ferneren Zukunft müßte er vor allem auch kurzfristig keine Auslieferung nach Rußland mehr befürchten. Das gleiche trifft auf Sakajew zu.
Außerdem hätte die russische Opposition mit Litwinenko gleichsam einen Märtyrer erhalten, sein Tod würde als Fanal wahrgenommen. Daher scheint mir auch ein Selbstmord nicht gänzlich abwegig zu sein: Er merkt, daß er in London lebend nicht mehr allzuviel gegen Putin ausrichten kann und opfert sich daher für 'die Sache'.
Aber auch eine weitere Variante erscheint rational durchaus nachvollziehbar. Sonach wurde der Anschlag von russischen Geheimdienstkreisen initiiert, um - zwecks eigenem Machterhalt - Putin ab 2008 zu einer dritten Amtszeit zu zwingen, was der bis dato in Übereinstimmung mit der russischen Verfassung strikt ablehnt. In diesem Kalkül wären die berechneten Folgen von Litwinenkos Tod dieselben wie bei Beresowski, nur das strategische Ziel wäre ein anderes.
Schließlich ist auch die Version, daß einzelne Ex-KGB-Offiziere einen privaten Rachefeldzug gegen "Dissidenten" führen m.E. zwar nicht übermäßig glaubwürdig, aber auch nicht gänzlich absurd.
4. Doch genug der Spekulationen. Es bleiben sehr viele Fragen offen und die britischen Behörden sind nicht um ihre Aufgabe zu beneiden, Licht in dieses wirre Gestrüpp von Kontakten, Spuren und Verdächtigungen bringen zu müssen. Bleibt zu hoffen, daß sie ihre Arbeit korrekt und schnellstmöglich abschließen, ohne sich durch medialen Druck zu voreiligen Schlüssen verleiten zu lassen.
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