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Dienstag, 19. Juli 2011

Putin, der Universalbösewicht


Wladimir Putin spielt in Westeuropa zunehmend die Rolle eines Universalbösewichts, dem man alle möglichen Untaten anhängen kann. Nicht nur die angeblich so schlimme Innenpolitik, die er früher als Präsident und nunmehriger als Premierminister der Rußländischen Föderation betrieben hat. Jetzt wird er in Frankreich auch zur sinistren Zentralfigur einer Verschwörung stilisiert, die sich gegen Dominique Strauss-Kahn richten soll. Angeblich hätten Putin und Präsident Nicolas Sarkozy die Vergewaltigung in New York gemeinsam inszeniert, um Strauss-Kahn aus dem Internationalen Währungsfonds zu vertreiben. Dabei bleibt allerdings offen, warum Putin oder die Geheimdienste der RF so etwas tun und welche politischen Ziele sie damit verfolgen solten. Das hindert die Anhänger dieser von "DSK" selbst kolportierten Verschwörungstheorie freilich nicht daran, sie weiterzuverbreiten.

Hieran zeigt sich, daß in den vergangenen sechs Jahren in den westlichen Medien ein überaus negatives Bild Putins aufgebaut worden ist, so daß die bloße Nennung seines Namens genügt, um negative Emotionen und Protest hervorzurufen. So auch nach der Bekanntgabe, daß er einer von vier Preisträgern des diesjährigen Quadriga-Preises sei. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich, wobei die vorgebrachten Einwände jede intimere Kenntnis und differenzierte Darstellung der Verhältnisse in Rußland vermissen ließen. Des weiteren hatten sie nichts mit der Begründung des Kuratoriums zu tun, wonach die besonderen Verdienste Putins um die deutsch-russischen Beziehungen gewürdigt werden sollten.

Hans-Georg Schnaak hat dies in seinem Kommentar gut zusammengefaßt:
"[...]

Ich bin deutscher Staatsbürger, arbeite aber seit etwa 20 Jahren in Moskau. Was sich in Deutschland tut, erlebe ich somit eher aus der Ferne, Russland dagegen hautnah.
Auch die Nominierung Putins für den Quadriga-Preis habe ich also aus der Ferne, über die Medien mitbekommen. Und ich fand diese Nominierung für seine wohl unumstrittenen Verdienste für die Verlässlichkeit und Stabilität der deutsch-russischen Beziehungen durchaus berechtigt. Was aber danach kam, ist mehr als peinlich.

Irgendwie erinnerten mich die Proteste gegen die Preisverleihung (oder wohl eher gegen Putin selbst?) wieder an die Rhetorik aus dem Kalten Krieg. So haben 260 Historiker und Wissenschaftler anderer Disziplinen sowie Politiker ein Schreiben unterzeichnet haben, in dem die Rücknahme der geplanten Ehrung gefordert wird, wie die «Süddeutsche Zeitung» (Montag) schreibt. Unter «der Ägide Putins wurden in Russland Bürgerrechte beschnitten und ein autoritäres Regime errichtet», heißt es demnach in dem Brief. Diesen habe auch die frühere Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) unterzeichnet. Auch das hat mit Putins Verdiensten für die deutsch-russischen Beziehungen absolut nichts zu tun…

Bei den Wissenschaftlern fällt mir ein, dass im vorigen Jahr auch zu Guttenberg unter den Preisträgern war, zwar noch als Dr. zu Guttenberg, aber daran scheint sich niemand mehr zu stören. Insgesamt ist die Zusammensetzung der Preisträger aber so, dass man sich ohnehin fragen muss, ob man sich wegen der einen geehrt oder wegen der anderen beleidigt fühlen müsste, in diese Liste aufgenommen zu werden.

Unter den Protestierenden sind auch so genannte Russland- und Osteuropaexperten. Bei manchen Argumenten möchte man meinen, dass die Experten ihr Expertenwissen in Bezug auf Putin aus Boulevardzeitungen haben. Einen solchen Eindruck bekam ich zum Beispiel bei Marieluise Beck von der Grünen-Bundestagsfraktion. Der Zeitung "Die Welt" sagte sie, sie habe nicht verstehen können, warum ausgerechnet Putin, der Erfinder der "gelenkten Demokratie", als Zeichen für die deutsch-russische Verbundenheit ausgezeichnet werden sollte. Hier verstehe ich auch nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat.

Laut dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus Löning (FDP) steht die „Quadriga“ für Freiheit, Bürgerrechte und Menschenrechte. Putin habe aber in Russland die Demokratie zurückgedreht.

Wie gesagt, ich erlebe Russland seit etwa 20 Jahren hautnah. Und ich habe mit eigenen Augen gesehen, was Putin von Jelzin für einen Scherbenhaufen übernommen hatte: ein durch 70 Jahre Sozialismus und die darauf folgenden zehn Jahre rücksichtslosen Raubkapitalismus und die Tschetschenienkriege vom Auseinanderfallen bedrohtes Land, in dem Gesetze jegliche Bedeutung verloren zu haben schienen.

Und es gab viele in Russland, die meinten, wenn Putin dagegen angeht, dann hat er zu viele zu mächtige Feinde gegen sich. Gemeint waren die sogenannten Oligarchen und die mit ihnen verbundenen Politiker in einnahmeträchtigen Ämtern (die sich lautstark als Demokraten verkündeten), kurzum, das grenze an Selbstmord. Und es gab kein Rezept, wie man aus all dem eine wirkliche Demokratie aufbaut… Aber gelenkt werden musste dieses Riesenland, in dem unter Demokratie Anarchie verstanden wurde, ja irgendwie. Und zwar mit „straffer Hand“, wie das von Jelzin enttäuschte Volk forderte.

Putin hat versucht, unter diesen Bedingungen eine demokratische Ordnung zu schaffen und der Anarchie eine „gelenkte Demokratie“ entgegengesetzt. Was im Westen als erneutes „autoritäres Regime“ verschrien wurde, war kein Rückschritt gegenüber Jelzins Ära, sondern brachte dem Land eine gewisse Stabilität. Man kann einem Land von heute auf morgen keine Demokratie überstülpen, wenn es dazu insgesamt noch nicht reif ist. Nicht einmal mit Waffengewalt, wie die USA im Irak begreifen mussten. Das versuchen sie schon seit Jahren ergebnislos. Putin war acht Jahre Präsident. Medwedew ist es inzwischen seit fast vier Jahren. Beide hintereinander oder auch zusammen haben viel erreicht. Aber Demokratie von Null an braucht eben Zeit.

Ich erinnere mich auch noch an das Schulterklopfen für Jelzin im Westen, als er das Land nahezu restlos ruinierte, und an die Angst im Westen, als mit der Anarchie in Russland das Land unberechenbar zu werden schien.

Russland ist berechenbar und stabil geworden, und das hat es nicht zuletzt Putin zu verdanken. Das Land hatte seine eigene stürmische Geschichte und muss seinen eigenen Weg in die Zukunft finden. Und auch hier hat Putin, ebenso wie der jetzige russische Präsident, Dmitri Medwedew, nicht wenig geleistet. Und das bei all den übernommenen Problemen nicht immer alles glatt geht, das ist wohl völlig normal. Wenn ich an die letzten großen Skandale in Italien und Großbritannien denke - nach wie viel Jahren Demokratie?

Mir drängt sich allerdings angesichts der bevorstehenden Präsidentenwahlen Anfang nächsten Jahres in Russland der Verdacht auf, dass einige im Westen schon indirekt zu verstehen geben wollen, dass sie Putin nicht als russischen Präsidenten nach den Wahlen sehen wollen. Die Kandidaten in Russland sind noch nicht nominiert…

[...]"
Ergänzend dazu sind m.E. an den Ereignissen der letzten Wochen darüber hinaus noch drei Aspekte bemerkenswert:

Wladimir Putin sollte explizit für sein Engagement um die Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland geehrt werden. Die lautstarke Kritik daran kann nur bedeuten, daß vielen Deutschen eben diese Beziehungen herzlich egal sind oder sie sogar für eine Verschlechterung plädieren. Ich halte dies für sehr bedenklich, denn fast auf den Tag genau 70 Jahre nach Beginn des Unternehmens "Barbarossa" sollten wir eigentlich froh darüber sein, daß sich unsere bisweilen höchst unangenehmen bilateralen Beziehungen seit einigen Jahrzehnten so positiv entwickelt haben.

Dies wird auch dadurch gestützt, daß die Nichtverleihung des Preises wenige Tage vor den deutsch-russischen Regierungskonsultationen bekanntgegeben wurde. Man mag diese zeitliche Nähe für Zufall halten, doch zumindest bei einem Teil der lautstarken Kritiker wird man wohl unterstellen dürfen, daß sie die Beziehungen zwischen beiden Staaten beschädigen wollen. Dazu paßt auch die ebenfalls jetzt lautgewordene Kritik am Petersburger Dialog. Dieses Forum ist manchen Deutschen nicht nur zu honoratiorenlastig, sondern auch zu stark vom Dialoggedanken geprägt. Ihnen wäre eine Anklagebank lieber, auf der sie die Russen über ihre echten und vermeintlichen Fehler belehren könnten. Frei nach dem Motto (nach dem heute auch die Grünen leben): "An unserem deutschen Wesen soll die Welt genesen. Und ist die Welt nicht willig, dann brauch ich Gewalt."

Dazu zählt auch Roland Jahn, seines Zeichens Bundesbeauftragter für die Unterlagen des ehem. MfS der DDR. Als Bundesbeamter ist dieser Mann eigentlich zur Zurückhaltung im politischen Meinungskampf verpflichtet. Das hat ihn freilich nicht davon abgehalten, sich zur Preisverleihung zu äußern und Putin als nicht preiswürdig zu bezeichnen. Interessant ist die Begründung: Putin sei als KGB-Offizier in den 1980er Jahren eine Stütze der kommunistischen Regimes gewesen. Komischerweise hat man vor zwei Jahren Michail Gorbatschow, der nicht nur langjährige Stütze, sondern später sogar Chef eines kommunistischen Regimes war, ebenfalls mit dem Quadriga-Preis geehrt, ohne daß es zu Protesten kam. Woran diese Doppelzüngigkeit wohl liegen mag?

Viel Wert wurde auch auf die Einlassungen früherer Empfänger des Quadriga-Preises gelegt. So habe Vaclav Havel die Rückgabe seines Preises angedroht und dies sei schließlich ausschlaggebend für die Entscheidung der Jury über die Aussetzung des Preises gewesen. Nun ist Havel nicht nur ein histtorischer Bürgerrechtler, sondern auch in der aktuellen Politik involviert. Und sein dabei zutagetretendes Weltbild ist schon zweifelhaft, wenn er etwa im März diesen Jahres für einen Krieg gegen Libyen plädiert hat - ganz nach dem Motto, daß man erst einmal viele Menschen töten müsse, damit sie "befreit" würden.

Die Bedeutung, die man Havel beimißt, ist ein Indiz für eines der größten Probleme der deutschen Außenpolitik. In einigen Staaten Osteuropas gibt es grundsätzliche Aversionen gegen Rußland, die sich keineswegs nur mit realen historischen Erfahrungen erklären lassen. Von Deutschland fordern derart gestimmte Politiker dann im Namen der "europäischen Solidarität" den Kampf gegen die RF ein. Zu diesem Personenkreis zählt auch Vaclav Havel, der nicht politisch oder menschenrechtlich, sondern kulturell argumentiert: für Havel gehört Rußland - im Gegensatz zur Ukraine oder Belarus - einfach nicht zu Europa und muß deshalb ausgeschlossen bleiben (vgl. z.B. hier, hier, hier und hier). Diese bisweilen patholgische Russophobie führt für die BRD zu einem Dilemma, denn im deutschen Interesse liegen gute Beziehungen zu allen Staaten Osteuropas, einschließlich Rußlands. Somit sind wir Deutschen anfällig für Erpressungsversuche und Leute wie Havel nutzen diesen Umstand weidlich aus. Leider mit Erfolg, wie die Ereignisse der letzten Tage belegen.

Die Kritik an der Ehrung Putins zeigt vor allem, wie anfällig wir Deutschen immer noch (oder schon wieder) für krude Ideologien sind. Die Welt wird in schwarz und weiß unterteilt, wobei die Rollen der "Guten" und "Bösen" eindeutig zugeordnet sind. Beispiel: Wenn in Deutschland ein ehemaliger BND-Präsident Minister wird, dann ist das in Ordnung. Wenn hingegen in Rußland ein früherer Nachrichtendienstler Präsident wird, dann wird dagegen agitiert.

Schon bei der Debatte um den geplanten Panzerverkauf an Saudi-Arabien habe ich mich gefragt, ob viele meiner Mitbürger (insbesondere unter den Journalisten) noch ganz bei Sinnen sind. Etwa, als von den "moralischen Grundlagen der deutschen Außenpolitik" die Rede war. Worin selbige bestehen, blieb zwar unausgesprochen, doch offenbar fühlen sich nicht wenige Deutsche dem Rest der Welt moralisch überlegen, so daß für strategische Gedankengänge oder die Anerkennung unzweifelhafter Leistungen kein Platz bleibt.

Dem steht nur eine Minderheit wie z.B. Margarita Mathiopoulos gegenüber:
"[...]

Der "heftig aufgekommene Moralismus von verschiedenen politischen und publizistischen Ecken", erstaune sie, sagte Mathiopoulos der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Sie fragte: "Sind wir in dieser Republik nicht auch von Politikern wie Hans Globke, Herbert Wehner oder Joschka Fischer mitregiert worden? Hatten alle drei nicht auch eine kontroverse Vergangenheit?" In der Tat sei Putin kein "lupenreiner Demokrat". Aber auch "in lupenreinen Demokratien sind nicht unbedingt alle politisch Verantwortlichen lupenreine Demokraten".

[...]"
In Rußland wurde der Skandal erstaunlich unaufgeregt aufgenommen und kommentiert. Vizepremier Viktor Subkow und andere Spitzenbeamte verwiesen darauf, daß die Rücknahme der Preisverleihung keine Auswirkungen auf die bilateralen Beziehungen haben werde. Subkow stellte allerdings auch die Frage, welcher rußländische Politiker außer Putin sich denn in den vergangenen zehn Jahren besonders um die Beziehungen zu Deutschland bemüht habe. Ferner meint die liberale Nesawissimaja Gaseta, daß die Proteste vom generellen Unverständnis der westeuropäischen Linksliberalen für die Verhältnisse in der RF zeugen. Ansonsten wird in den Kommentaren betont, daß der Quadriga-Preis keine öffentliche, sondern eine private Veranstaltung ist und daß die mangelnde Koordination innerhalb des Kuratoriums ausschlaggebend für die jetzt entstandene chaotische Situation gewesen sei.

Thomas Fasbender, ein anderer in Moskau lebender Deutscher, fragt in seinem lesenswerten Kommentar: "Hand auf's Herz - wer kannte vor drei Wochen einen Quadriga-Preis? Eine Werkstatt Deutschland? Nun ist ganz Deutschland eine Werkstatt, darauf sind wir zu recht stolz - aber eine Werkstatt Deutschland e.V.?" Ich kannte sie jedenfalls nicht. Fasbender weiter:
"[...]

Grund dafür ist ein Fettnäpfchen namens Wladimir Putin. Und mit Fettnäpfchen ist es in Deutschland so eine Sache. Ist der Fuß erst einmal drin, geht sie zumeist übel aus. Dabei hatten sich die Trustees gemessen an ihrem heurigen Motto "Leadership" mit Putin keinen schlechten Kandidaten ausgesucht. Was immmer man ihm vorwerfen mag, seine Führungsqualitäten wird niemand ernsthaft bezweifeln.

Aber kann so einer Vorbild für Deutschland sein - a role model for Germany?

Nun werden die Trustees kaum gewollt haben, Deutschland à la Putin zu regieren. Auch die Russen würden mit Frau Merkel ihre Probleme haben. Vielleicht hatten sie eine von Putins wichtigsten Leistungen im Blick, das Zurückfahren der Staatsschulden von fast 150 % des Bruttosozialprodukts auf fast Null im Laufe von einem halben Jahrzehnt. So gesehen kein unaktuelles Thema, und im Ergebnis durchaus vorbildlich. Oder sie wollten den russischen Ministerpräsidenten ganz einfach für seinen Beitrag zu den guten nachbarlichen Beziehungen ehren.

Aber die Rechnung war ohne den Wirt gemacht. Der Wirt, das sind die deutschen Medien, nicht minder staatstragend als der Werkstattverein, aber ungleich mächtiger. Putin ist ihr persönlicher Buhmann, der sich erfrecht, dem Westen zu zeigen, dass Russland auch anders kann. [...]

Am Ende hatte das Spektakel mit Putin selbst am allerwenigsten zu tun. Es ging nur noch um Positionierung und schnelle Flucht. Manche kennen das von Hauptstadtparties, wenn die Rede auf Russland kommt. Was, Sie sind für Putin - sind Sie denn kein Demokrat? [...]

Die Sieger können nun frohlocken; so schön kann Widerstand sein. Das Risiko ist nicht höher als beim Mitbeten während der heiligen Messe, und man steht garantiert auf der richtigen Seite. Ist doch was: Sophie-Scholl-Feeling zum Nulltarif.

[...]"

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