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Donnerstag, 26. Mai 2011

Ernst und Unernst in der russischen Literatur

Seit mehreren Jahren wird im Ausland ein russischer Schriftsteller hofiert, dessen magere literarische Leistungen auffallend mit seinem Ruhm als „Oppositioneller“ kontrastieren. Gemeint ist Wladimir Sorokin, der seine Bücher als Kritik von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew verstanden wissen will – und der dafür u.a. von deutschen und französischen Kritikern gelobt wird. Liest man seine Schriften jedoch, so wird man sie sehr vielfältig deuten können. Eines sind sie jedoch nicht: Widerstandsschriften. Ein britischer Rezensent sah im „Tag des Opritschniks“, mit dem Sorokin berühmt geworden ist, sogar das Gegenteil, nämlich eine positive Imperialphantasie.

Meiner bescheidenen Auffassung nach ist dieses Buch höchst unpolitisch. Es handelt sich dabei vielmehr um eine eigentümliche Mischung aus Science Fiction und Pornographie. (Insoweit haben die russischen Kritiker Sorokins ganz recht.) Man kann dem „Tag des Opritschniks“ den literarischen Wert nicht gänzlich absprechen, aber der Leser sollte auf detaillierte Beschreibungen von Gruppensex, Vergewaltigungen und SM-Praktiken stehen, um diesem Buch etwas abgewinnen zu können. Mit Politik hat dies jedoch nichts zu tun und die Einstufung als politischer Schriftsteller wäre eine maßlose Überschätzung Sorokins.

Erheblich relevanter für die gegenwärtige rußländische Gesellschaft ist hingegen ein anderer Titel, der im Gewand eines Kriminalromans daherkommt („Gangstafiction“): „Nahe Null“ von Natan Dubowitzki. Der Name des Autors ist ein Pseudonym. Dies hat die Diskusion über das Buch leider auf Abwege geführt, gibt man sich doch oft Spekulationen über die wahre Identität des Autors hin. Es wird vermutet, daß es sich dabei um Wladislaw Surkow, einen hohen Regierungsbeamten, handeln könnte. Bestätigungen dafür gibt es freilich nicht, und somit erachte ich es für nutzlos, sich über solche Fragen den Kopf zu zerbrechen. Denn das Buch hat es in sich.

Man kann „Nahe Null“ durchaus als scharfsinnige Analyse der gesellschaftlichen Lage lesen – allerdings nicht in dem simplen, schematischen Sinn, wie es die „Liberalen“ tun. Jegor, die Hauptfigur des Buches, hat einen nicht untypischen Lebensweg hinter sich: Geboren in der Sowjetunion, aufgewachsen in der Provinz, Schulabschluß, Wehrdienst bei den Fallschirmjägern, danach ein geisteswissenschaftliches Studium. Schließlich arbeitete er zu Beginn der 1990er Jahre als kleiner Angestellter in einem Verlag, als ihn einer seiner Kollegen in die kriminelle Szene einführte. Es ging um nicht lizenzierte Auflagen und Übersetzungen von Büchern, also um einen „Bücherschwarzmarkt“. Fortan hat Jegor, der bisherige Intellektuelle, nicht nur „Schwarzauflagen“ klassischer Autoren unter die Leute gebracht, sondern auch „schmutzige Arbeit“ erledigt. Renitente Buchhändler wurden ebenso beseitigt wie Konkurrenten, die andere Schwarzauflagen verbreiten wollten.

Doch mit Beginn der 2000er Jahre wird das Leben allgemein – und damit auch Jegor – gesitteter. Die Tätowierungen verblassen, die dicken Goldketten verschwinden, man bemüht sich um seriöses Auftreten und um den Wechsel in legale Geschäfte. Hinzu kommt die Förderung der heterogenen Kunstszene, die von diffusen Figuren bevölkert wird. Dazu zählt auch ein Filmemacher, der sich auf Horrorfilme spezialisiert hat. Jegor hat den Verdacht, daß seine Ex-Geliebte Plaksa in einem dieser Streifen umgebracht wurde – beim Geschlechtsverkehr erdrosselt. Nach inneren Qualen macht er sich auf die Suche nach Plaksa, spürt schließlich die versteckte Unterkunft des Regisseurs auf, der im Kaukasus wohnt und sich von einem dort lebenden Stamm bewachen läßt. Das Zusammentreffen beider verläuft höchst unfriedlich; Jegor verläßt es als Krüppel. Nun ist er vom Gedanken an Rache besessen, doch will er zugleich nicht mit seinem Eid brechen, daß er nie wieder töten werde. Eine Zwickmühle, aus der sich Jegor bis zum Schluß nicht befreien kann, denn das Buch läßt das Ende offen.

Jegor kann als Prototyp jener Geschäftsleute gesehen werden, die in den wilden 90ern zuhauf krumme Geschäfte machten, sich aber später um eine weniger aufregende und gefährliche Existenz bemüht haben. (Im Falle Jegors war es die Tätigkeit als Literaturagent.) Da das Buch im Hier und Jetzt spielt, findet auch die Weltwirtschaftskrise ihren Niederschlag: Die plötzlich aufkommende Existenzangst führt bei einigen dieser Geläuterten zu einem Erwachen der alten Instinkte, die schon lange abgelegt schienen.

Auch Jegors Privatleben ist nicht untypisch. Er war mit einer Kollegin aus seinem ehemaligen Verlag verheiratet und beide haben eine gemeinsame Tochter. Doch die Ehe ist alsbald in die Brüche gegangen, wobei die Scheidung für die nunmehrige Ex-Frau sehr einträglich war. Sie führte ein weitgehend sorgenfreies Leben und das Töchterchen entwickelte sich zu einer dicken, verzogenen Göre. Das Verhältnis zwischen den drei Personen ist angespannt. Danach hatte Jegor noch diverse Liebschaften, die jedoch mehr physischen Charakter trugen.

Einer der wichtigsten Aspekte von „Nahe Null“ ist die Charakterisierung der russischen Intelligenzija. Jegor ist noch einer ihrer produktiveren Vertreter, wenn er Geschäfte mit Texten macht und nach neuen Schriftstellertalenten sucht. Andere leben in verwahrlosten Umständen und geben sich einem exzessiven Drogenkonsum hin, um dann in den „cleanen“ Phasen neue Lieder zu schreiben und aufzunehmen. Ein weiterer wird wiederum zum „Advokaten des Teufels“, der sich als Redenschreiber für zwei antagonistische Parlamentsabgeordnete verdingt. Oder jener junge Neonazi, der in den Kaukasus fährt, um dort im islamistischen Untergrund Sprengstoff zu kaufen, mit dem er später in Moskau Anschläge auf dort lebende Moslems verüben will.

Damit führt Dubowitzki (oder wie immer der Autor heißen mag) die Hoffnung auf die „Erlösung“ durch eine Klasse von Intellektuellen ad absurdum. Es gäbe noch viel mehr beachtens- und erwähnenswertes in diesem Buch. Es ist eine interessante und durchaus treffende Darstellung der Verhältnisse im heutigen Rußland. Sie umfassen viele, z.T. gegenläufige Tendenzen und sind bisweilen chaotisch. Dabei darf natürlich nicht übersehen werden, daß das Buch in den oberen Schichten der Gesellschaft spielt; die Perspektive der kleinen Leute kommt nur am Rande vor. Deshalb sollte man mit voreiligen Generalisierungen vorsichtig sein, zumal der Autor viel Wert auf Zwischentöne gelegt hat.

Noch absurder ist es allerdings, wenn manche Rezensenten, gestützt auf die Vermutung der Autorschaft Wladislaw Surkows, davon sprechen, daß der Untergang eines Systems drohe, daß der Autor selbst erschaffen hat. Diese Kommentatoren übersehen die Komplexität politischer und gesellschaftlicher Vorgänge. In unserem Zeitalter, das von der (Informations-)Technik geprägt ist, erschafft niemand ein „System“, zumindest nicht in global integrierten modernen Gesellschaften. Es entwickelt sich einfach und Politiker können bestenfalls versuchen, steuernd einzugreifen. Der Menschen, Bedingungen und Einflußfaktoren gibt es viele und niemand kann sie vollständig dirigieren. Deshalb ist es eine unzulässige Versimplifizierung, wenn sämtliche (positiven wie negativen) Entwicklungen in einem Land einzelnen Personen zuschreiben werden.

Fazit: „Nahe Null“ ist eine fiktionale Darstellung der „besseren Kreise“ der heutigen russischen Gesellschaft, die dennoch starke Bezüge zur Realität hat. Es ist kein moralischer Roman, in dem die Rollen von gut und böse eindeutig verteilt wären. Somit wird auch kein klarer Ausweg aus der partiellen Misere gewiesen. Dies entspricht allerdings auch den Gegebenheiten einer modernen Gesellschaft. Als Hilfe erscheint vor allem die Selbstreflektion und -erziehung der Menschen. Jeder einzelne muß sich (so wie Jegor im Buch) darüber klar werden, daß Mord und andere Verbrechen erstens seine Seele belasten und zweitens für die Gesellschaft insgesamt schädlich sind. Wenn diese Einsicht ausbleibt, hilft auch eine intensivierte Strafverfolgung nicht weiter. Insofern ist das Buch kein politisches Pamphlet, sondern eine Anregung zum Nachdenken über sich selbst.


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