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Dienstag, 12. April 2011

Das libysche Labyrinth


„Einen guten Journalisten erkennt man daran, daß er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache; daß er überall dabei ist, aber nirgendwo dazugehört.“ (Hanns Joachim Friedrichs)
Vorab: Obwohl ich mich vor einigen Jahren intensiver mit dem Nahen und Mittleren Osten beschäftigt und sogar begonnen habe, Arabisch zu lernen, bin ich alles andere als ein Experte für diese Region. Mein Interesse hat sich auf den eurasischen Raum verlagert, nachdem ich feststellen mußte, daß die arabische Sprache ein Maß an Zeit und Aufmerksamkeit erfordert, welches ich nicht erübrigen konnte. Dennoch werfen die Ereignisse in Libyen (und die Berichterstattung darüber) einige Fragen auf, die ich nachfolgend formulieren möchte.

Rückblende: Kosovokrieg 1999

Was und wie seit zwei Monaten über Libyen in unseren Medien berichtet wird, erinnert auf fatale Weise an den Kosovo-Krieg des Jahres 1999. Damals hatte der „Westen“ plötzlich das Bedürfnis, den Kosovoalbanern zu einem eigenen Staat zu verhelfen. Deshalb tauchten aus dem Nichts „Freiheitskämpfer“ auf, die unter dem Namen UCK liefen. Es häuften sich „Berichte“ über Greueltaten jugoslawischer Sicherheitskräfte an den Albanern. Die deutsche Bundesregierung hatte angeblich sogar einen detaillierten Völkermordplan enthüllt („Hufeisenplan“) und der damalige Außenminister Joseph Fischer verstieg sich gar dazu, daß man ein neues Auschwitz verhindern müsse.

Nachdem sich der Pulverdampf des Krieges und der Propaganda gelegt hatte, stellte sich freilich heraus, daß in diesem Krieg unheimlich viel gelogen wurde, um die „humanitäre Intervention“ zu rechtfertigen. Soweit es tatsächlich Kriegsverbrechen der Serben gegen Albaner gegeben hatte, hatten sie meist erst nach Beginn der NATO-Bombardierungen stattgefunden und konnten somit den Krieg nicht rechtfertigen. Der Hufeisenplan hat sich als Lüge entpuppt. Und die angeblichen Freiheitskämpfer der UCK waren damals wie heute vor allem eines: Kriminelle. Heute, anno 2011, müssen NATO und EU nicht einmal mehr den Schein waren und verhaften ehemalige UCK-Kämpfer, die im neuen Staat Kosovo in hohe Staatsämter aufgestiegen waren, wegen diverser Straftaten – auch Kriegsverbrechen gegen Serben 1999. Damit verfestigt sich der Eindruck, daß es 1999 nicht um humanitäre Gründe, sondern um die Auflösung des Staates Jugoslawien gegangen ist. Dieses politische Ziel wurde schließlich im Jahr 2006 erreicht.

Bürgerkrieg in Libyen

Aufgrund dieser Erfahrungen bin ich sehr skeptisch gegenüber den Behauptungen, die Sicherheitskräfte des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi hätten Greueltaten gegenüber der „Zivilbevölkerung“ verübt und würden weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit beabsichtigen. Bisher liegen, soweit ich sehen kann, keine stichhaltigen Beweise für derartige Verbrechen vor. Selbige müßten ja riesige Leichenberge hinterlassen haben, welche man z.B. fotografieren könnte.

Was in Libyen tatsächlich vorgeht, ist ein Bürgerkrieg. Und die einzigen beweisbaren Angriffe der libyschen Streitkräfte richten sich nicht gegen eine diffus bleibende Zivilbevölkerung, sondern gegen Aufständische. Bei letzteren handelt es sich um desertierte Einheiten des Militärs und der Sicherheitskräfte sowie um aus ehemaligen Zivilisten bestehende Milizen, die von einigen ostlibyschen Stadträten organisiert worden sind. Mithin ist es absurd, wenn davon gesprochen wird, Gaddafi zwinge seinem Volk einen Bürgerkrieg auf. Nein, er kämpft gegen bewaffnete Aufständische.

Dies würde übrigens jeder deutsche Bundeskanzler in einer vergleichbaren Lage ebenfalls tun. Einige Journalisten sollten, bevor sie Gaddafi verurteilen, Artikel 87a Absatz 4 des deutschen Grundgesetzes lesen:
„Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Abs. 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. [...]“
Das dürfte grundsätzlich dem entsprechen, was gerade in Libyen geschieht.

Die obskure Opposition

Wer steckt hinter der Opposition, der im Westen gerade die Sympathien zufliegen? Ist sie es wirklich wert, unterstützt zu werden? Hierfür sei zunächst auf diesen Hintergrundbericht von Stratfor verwiesen: „Libya’s Opposition Leadership comes into Focus“. Die Opposition ist nicht nur sehr heterogen, sie ist auch Fleisch vom Fleische Gaddafis. Zu ihren Anführern zählen mehrere ehemalige Minister und Beamte seiner Regierung, die allerdings im Februar und März schnell genug die Seiten gewechselt haben.
Darunter ist auch der Militärchef der „Übergangsregierung“ Abdel Fattah Younis, der noch bis vor wenigen Wochen als Innenminister in Tripolis residierte. In dieser Funktion hat er mit Sicherheit an den Menschenrechtsverletzungen teilgenommen, die man Ghaddafis Regime vorwirft. Aber er war schlau genug, die Zeichen der Zeit zu erkennen – der Weg vom Folterknecht zum „Freiheitskämpfer“ kann kurz sein (zumindest in der Darstellung der westlichen Medien).

Aufgrund der personellen Kontinuitäten der Opposition zur Regierung Gaddafis erwarte ich bei einem (unwahrscheinlichen) Sieg der (militärisch wenig potenten) Aufständischen keine Verbesserung der Herrschaftspraxis in Libyen. Mit anderen Worten: Es dürfte weitergehen wie gehabt, nur mit einigen anderen, z.T. schon bekannten Personen an der Spitze. Deshalb ist mir schleierhaft, wie man diese Opposition verklären und für sie bedingungslose Unterstützung einfordern kann. Ist der Haß auf Gaddafi wirklich so groß, daß alle anderen Aspekte darüber vergessen werden? Warum sollte ein Sieg dieser Figuren wünschenswert sein? Zumal wohl niemand weiß, wie groß ihr tatsächlicher Einfluß auf die bewaffneten Haufen der diversen Milizen ist.

Es kommt noch schlimmer: Ein Großteil der Mitglieder des Rebellenrates hält seine Identität geheim - angeblich aus Angst vor Repressionen Gaddafis. Diese Sorge mag berechtigt sein, doch woher wollen die westlichen Politiker und Journalisten dann wissen, daß es sich bei den Rebellen um die unterstützenswerten „Guten“ handelt?

Mich würde interessieren, was die wahren Hintergründe dieses Konfliktes sind. Regionale Stammesdifferenzen, Elitenkämpfe, Streit um die Verteilung der Einnahmen aus der Rohstofförderung? Um Freiheit, Demokratie und Menschenrechte kann es nicht primär gehen, sonst würden die Aufständischen (die nicht identisch mit „dem Volk“ sind!) nicht frühere Spitzenleute Ghaddafis als ihre Anführer dulden. Oder wird jetzt versucht, alle tatsächlichen und vermeintlichen Untaten Ghaddafi persönlich anzulasten, um seine gewesenen Minister als moralisch sauber darzustellen?

Die UN-Resolutionen

Die Resolution 1973 (und, ergänzend, Resolution 1970) des UN-Sicherheitsrates hatten für Libyen eine mehrstufige Lösung des Konflikts im Auge: Isolierung Libyens durch diverse Sanktionen, Einrichtung einer Flugverbotszone zum Schutz von Nichtkombattanten (!), Beginn von Verhandlungen unter maßgeblicher Einbeziehung der Afrikanischen Union.

Davon ist sowohl in der Medienberichterstattung als auch in der Praxis des Krieges wenig übrig geblieben. Der Schutz der Zivilbevölkerung vor den behaupteten Massakern des libyschen Militärs mutierte zur bewaffneten Unterstützung von Aufständischen. Über Verhandlungen mit Ghaddafi wurde fast gar nicht mehr gesprochen. Im Gegenteil, ausländische Politiker erklärten seine Absetzung zum Kriegsziel. Als ob Washington, London oder Paris darüber zu befinden hätten, wer in anderen Hauptstädten regieren darf – Artikel 2 Nr. 4 u. 7 der UN-Charta ist weithin in Vergessenheit geraten.
Die Handlungen der NATO und jener Staaten, die Krieg gegen Libyen führen, sind somit teilweise völkerrechtswidrig. Dies trifft insbesondere auf Waffenlieferungen an die Rebellen zu, die unzweifelhaft dem mit Resolution 1973 verhängten Waffenembargo widersprechen. Doch anders als im Kosovokrieg 1999 hat man sich diesmal wenigstens um eine UN-Resolution bemüht, um so den Anschein der Legalität zu wahren.

Die Arabische Liga, auf deren Verlautbarungen man in den Tagen vor Kriegsbeginn so viel Wert gelegt hatte, um die Unterstützung der islamischen Länder im Nahen und Mittleren Osten zu finden, wurde wieder an den Rand gedrängt.

Mangelnde deutsche Solidarität?

Von einigen Politikern und Journalisten wurde bedauert, daß sich Deutschland bisher nicht an diesem Krieg beteiligt. Hinzu kam der Vorwurf mangelnde Solidarität mit den Verbündeten. Diese Solidarität ist jedoch keine diffuse Angelegenheit, sondern hat in Artikel 5 des NATO-Vertrages eine konkrete völkerrechtliche Grundlage. Diese setzt einen bewaffneten Angriff auf einen Mitgliedsstaat des Nordatlantikpaktes voraus, was hier offensichtlich nicht der Fall war. Wenn nun die Regierungen einiger NATO-Mitglieder meinen, in Nordafrika Krieg führen zu müssen, dann ist das deren Sache. Deutsche Bündnissolidarität können sie für solche spätkolonialen Abenteuer jedoch nicht einfordern.

Im übrigen bleibt es jenen deutschen Politikern, die gerne in der libyschen Wüste auf den Spuren des „Wüstenfuchses“ Erwin Rommel wandeln möchten, unbenommen, nach Bengasi zu reisen, sich dort ein Gewehr geben zu lassen und dann gegen die libyschen Regierungstruppen zu kämpfen. Doch im Gegensatz zu Theodore Roosevelt anno 1899 dürfte es den meisten deutschen Politikern am notwendigen persönlichen Mut fehlen.

Die Zweifel an diesem Krieg mehren sich, wenn man die teilnehmenden Staaten betrachtet.
Frankreich hat als erster Staat die Rebellen als libysche Regierung anerkannt. Falls die Berichte stimmen sollten, wonach Präsident Sarkozy diese Entscheidung aufgrund den Einflüsterungen des „Kriegsphilosophen“ Bernard-Henri Levy ohne Rücksprache mit seinem Außenministerium getroffen hat, dann spricht das stark gegen den französischen Staatschef. Ein solch unüberlegtes Verhalten ist unprofessionell und keine Basis, auf der er von Deutschland einen militärischen Beitrag einfordern könnte.

Ferner beteiligt sich auch die belgische Luftwaffe an den Bombardierungen. Dabei ist Belgien ein Staat, der sich seit Monaten in einer tiefen Krise befindet; es droht die Auflösung des Landes. Obwohl Belgien schon lange keine „richtige“ Regierung mehr hat, meinen die derzeitigen Machthaber in Brüssel offenbar, daß es notwendig sei, in Nordafrika zu kämpfen. Schöne „Alliierte“. Ob sie so von ihren inneren Problemen ablenken wollen?
Dem Vernehmen nach beteiligt sich auch Griechenland an den Operationen. Wäre es für dieses Land, das sich seit geraumer Zeit am Staatsbankrott entlanghangelt (und wohin auch deutsche Steuergelder reichlich fließen), nicht besser, die gesamte Staatstätigkeit einschließlich des Militärs auf ein unbedingt notwendiges Minimum zu reduzieren?

Ach ja, falls sich jemand über die in den letzten Wochen gestiegenen Spritpreise wundern sollte: Deutschland war bis vor kurzem neben Italien der Hauptabnehmer libyschen Erdöls. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß die deutsche Energiesicherheit nicht durch die pösen Russen, über deren vermeintliche „Gaskriege“ man seit Jahren diskutiert, sondern durch unsere Verbündeten in der NATO ernsthaft gefährdet wird.

Die Lage in Bahrain

Im Mitte März 2011 hat es eine militärische Intervention verschiedener Golfstaaten in Bahrain gegeben. Das Ziel bestand hier jedoch nicht in der Unterstützung der Aufständischen, sondern in der gewaltsamen Niederschlagung der schiitischen Proteste gegen das sunnitische Herrscherhaus.
Die USA beließen es hier bei kaum ernstzunehmenden verbalen Protesten, vermuten sie doch ihren Erzfeind Iran als Drahtzieher hinter der Opposition. Wenn also in Bahrain eine „demokratische“ Opposition auftritt, dann darf sie von der Obrigkeit unterdrückt werden. Passiert dasselbe in Libyen, werden die Aufständischen unterstützt.

Zu guter Letzt: Ägypten

Zwischenzeitlich war es in Ägypten etwas ruhiger geworden. Am 19. März wurde eine Volksabstimmung über Verfassungsänderungen abgehalten. Sog. „liberale“ Kräfte in Kairo meinten aber kurz danach, dieses Referendum habe im Ergebnis den Moslembrüdern in die Hände gespielt. Eine Vertagung der Wahlen wäre für die Demokratie besser gewesen. Und nun hat es dieser Tage wieder größere Demonstrationen in Kairo gegeben, die von der Armee nach Eintritt der Sperrstunde geräumt wurden. So zeigt sich, daß die großspurigen Hoffnungen auf eine als Verwestlichung gedachte Demokratisierung Ägyptens getrogen haben. Im Kern hat sich im Land am Nil nichts geändert.

Es wird vermutlich noch für viele Lobredner und Enthusiasten der „arabischen Revolution“ ein böses Erwachen geben. Mubarak ist weg, trotzdem bleibt in Kairo fast alles beim alten. Der mehrfach totgesagte Gaddafi hält sich an der Macht und kann auch nicht weggebombt werden.
Insofern mußte ich an Majakowskijs „Ode an die Revolution“ denken, die dieser 1918 schrieb. Obwohl er ein fanatischer Bolschewist war, überkamen ihn offenbar Zweifel angesichts des Chaos und der Gewalt, die der Oktoberrevolution folgten:
„[…]

Welchen Ausgang nimmst du noch, doppelgestaltige?
Stehst du als stattliches Bauwerk auf
oder – bloß als Ruinenhauf?


[…]“

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Foto: AFP.

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