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Dienstag, 27. Juli 2010

"Wostok – 2010"


Vom 29. Juni bis zum 8. Juli 2010 hat in den östlichen Gebieten der Rußländischen Föderation die Operativ-strategische Übung „Wostok-2010“ (dt.: Osten 2010) stattgefunden. Sie war nicht nur das größte Militärmanöver in Rußland seit 1991, sondern wies auch manche Neuerungen auf, die nicht einmal zu Sowjetzeiten üblich waren, denn damals waren die Streitkräfte erheblich größer als heute. Insgesamt nahmen 20.000 Soldaten, 40 Schiffe und Boote sowie 75 Flugzeuge und Hubschrauber an der Übung teil.




Handlungen von Überwasserkräften, Kampfschwimmern und Marineinfanterie.


Übungslage

Eigentlich handelte es sich um eine Übungsserie, denn es wurde kein großer Gesamtplan durchgespielt. Vielmehr wurden auf 19 Übungsplätzen zwischen Altaj-Gebirge und Wladiwostok eine Vielzahl kleiner und mittlerer Übungen absolviert, die oft in keinem direkten Zusammenhang zueinander standen. Die dabei zugrundegelegten Szenarien reichten von der Bekämpfung bewaffneter Banden (also den typischen LIC-Szenarien) über konventionelle Operationen zu Lande einschließlich dem Einsatz von Kampfpanzern und Artillerie bis hin zu See- und amphibischen Operationen, insbesondere Seelandungsabwehr und Durchführung einer eigenen Seelandung.



Eingesetzte Truppen

Am Manöver haben die Land- und Luftstreitkräfte des Fernöstlichen Militärbezirks, des Sibirischen Militärbezirks und der Pazifikflotte teilgenommen. Sie wurden durch Verbände aus den westlichen Teilen der RF verstärkt (Stichwort: force projection). Zur See waren dies die Raketenkreuzer „Peter der Große“ (Nordmeerflotte) und „Moskwa“ (Schwarzmeerflotte). Einige motorisierte Schützenbrigaden wurden ganz oder teilweise in den Fernen Osten verlegt; zum Teil per Bahn, zum Teil aber auch per Flugzeug. Letztere versahen sich erst in „frontnahen“ Mobilmachungslagern mit Fahrzeugen und Kampftechnik. Ebenso verlegten Kampfflugzeuge aus West- und Südrußland in den Übungsraum, wobei die in den russischen Luftstreitkräften wenig praktizierte Luftbetankung geübt wurde.

Diese Truppenverlegung war einer der wesentlichen Aspekte des Manövers. Denn die russischen Verbände, die in Ostsibirien und dem Fernen Osten disloziert sind, sind – verglichen mit den Streitkräften anderer Staaten der Region – relativ schwach und kaum fähig, Küste und Landgrenzen einigermaßen zu decken. Dies ist für das russische Militär eine neue Situation. Zu Sowjetzeiten ging man davon aus, daß für jeden potentiellen Kriegsschauplatz ein eigenes, den Gegebenheiten angepaßtes Truppenkontingent aufgestellt wird, welches dort selbständig handeln kann und nur bedingt auf Verstärkungen aus dem Rest des Landes angewiesen ist. Doch die massive Reduzierung der Armee seit 1991 hat diese Doktrin obsolet gemacht. Weder Land-, Luft- noch Seestreitkräfte in einem Teil Rußlands können heute ohne Verstärkungen aus anderen Landesteilen einen etwas größeren Konflikt bestehen. Diese neue Lage führt natürlich auch zu neuen Herausforderungen für Führung, Organisation und Logistik der Streitkräfte.

An einigen Übungsteilen haben neben den Truppen des Verteidigungsministeriums auch Spezialkräfte von Innenministerium und Föderalem Sicherheitsdienst sowie Einheiten der Bereitschaftspolizei und des Katastrophenschutzes teilgenommen. Dies ist in der RF seit Jahren üblich und entspricht dem, was man hierzulande unter dem Stichwort „erweiterter Sicherheitsbegriff“ versteht.



Führungsorganisation

Ein weiterer wesentlicher Aspekt war das praktische Üben der neuen Organisationsformen, namentlich in den Landstreitkräften, wie sie seit 2008 eingeführt worden sind (u.a. Übergang vom Divisions- zum Brigadesystem; siehe auch hier). Insofern scheinen die Ergebnisse positiv gewesen zu sein, d.h. daß die Startschwierigkeiten der ersten Jahre langsam überwunden werden. Das Übungsgebiet von Wostok-2010 entsprach in etwa dem Territorium des zukünftigen Operativ-strategischen Kommandos Ost.



Politischer Hintergrund

Kommen wir zu einer der interessantesten Fragen: Gegen wen hat sich das Manöver „Wostok-2010“ gerichtet? Offiziellen Erklärungen zufolge gegen keinen anderen Staat, was angesichts der quantitativen Schwäche der rußländischen Armee auch glaubhaft erscheint. Dennoch gibt es einen politischen Hintergrund, wenn man derzeit hypothetische, aber für die Zukunft keineswegs ausgeschlossene Konflikte mit Japan und der Volksrepublik China bedenkt.

Mit Japan herrscht de jure nach wie vor der Kriegszustand, auch wenn man fleißig miteinander Handel treibt. Grund ist die Weigerung Tokios, seinen Anspruch auf die 1945 von der UdSSR besetzten Südkurilen-Inseln aufzugeben. Und das japanische Militär ist in den letzten Jahren gewachsen, wohingegen die russischen Streitkräfte, gerade auch im Fernen Osten, reduziert worden sind. Russische Analysten halten daher mittel- bis langfristig eine japanische Militäroperation zur Rückgewinnung der Südkurilen für möglich.
Die Beziehungen zu China sind komplexer und diffiziler. Einerseits kooperieren beide Staaten politisch und ökonomisch auf vielen Gebieten. Andererseits fürchten nicht wenige in Rußland eine chinesische Expansion nach Norden – also in jene Gebiete der RF, die nur dünn besiedelt, dafür aber rohstoffreich sind. Sorgen bereitet insofern auch die Stärke des chinesischen Militärs, gegenüber dem die russische Armee hoffnungslos unterlegen ist. Zum Beispiel bei den Landstreitkräften: Den 12 Brigaden nördlich des Amur stehen auf dessen Südseite in der Militärregion Shenyang 9 Divisionen und weitere 11 selbständige Brigaden gegenüber.

Insofern ist Wostok-2010 vor allem als politische Demonstration zu verstehen: Rußland ist gewillt, seine östlichen Landesteile allen inneren Widrigkeiten und der schwierigen Verkehrsverbindungen zum Trotz gegen Begehrlichkeiten anderer Staaten zu schützen und sie ggf. aktiv gegen einen militärischen Angriff zu verteidigen. Die konventionellen Manöverelemente mechanisierter Truppen entsprachen somit einem eventuellen Konflikt mit China, während die amphibischen Übungen einem Szenario um die Kurilen entsprungen waren (erst Eroberung durch gegnerische Truppen, dann Seelandung der eigenen zwecks Rückeroberung).




Eine Mot. Schützen-Brigade in der Verteidigung.


Manöverkritik

Wie nicht anders zu erwarten, gehen die Bewertungen von Wostok-2010 in der russischen Presse weit auseinander. Manche Kommentatoren meinen, nunmehr sei die Wirksamkeit der neuen Militärorganisation (und damit der gesamten Armeereform) bewiesen. Diese geht von begrenzten lokalen und regionalen Konflikten aus, weshalb die Reduzierung der Armee und das damit im Konfliktfall notwendig werdende Hin- und Herschieben von Truppen durch das ganze Land kein sicherheitspolitisches, sondern nur ein logistisches Problem darstellt.

Die Gegenmeinung wird u.a. vom Politologen Alexander Chramtschichin (der u.a. regelmäßig für die Militärbeilage NWO der als liberal geltenden Nesawissimaja Gaseta schreibt) vertreten. Er sieht die gesamte Militärreform als gescheitert an, was durch das jüngste Großmanöver bewiesen worden sei. Verkleinerung und Umorganisation der Armee hätten zu einer erheblichen Schwächung der konventionellen Streitkräfte in den östlichen Teilen der RF geführt. Diese seien den beiden wahrscheinlichsten Gegnern in der asiatisch-pazifischen Region weit unterlegen. Deren Fähigkeiten seien während der Übung heruntergespielt, die der russischen Armee jedoch zu positiv gesehen worden. Die Mobilmachungsbasen und Flugplätze seien im Kriegsfall viel zu nahe an der Front und könnten somit leicht ausgeschaltet werden. Die Heranführung von Kräften und Mitteln aus anderen Gebieten Rußlands könne fast nur über die ebenfalls sehr verwundbare Transsibirische Eisenbahn geschehen.

Chramtschichin räumt zwar ein, daß viele der Einzelübungen von Wostok-2010 positiv verlaufen seien. Dennoch sieht er jetzt die politische Führung gefordert, ihre Verteidigungspolitik im Fernen Osten zu überdenken. Man brauche starke konventionelle Kräfte in der Region und eine Rückkehr zur Divisionsstruktur, um abschreckend wirken zu können. Die Option einer Verstärkung durch die seines Erachtens insgesamt zu wenigen Brigaden der übrigen Militärbezirke sei unzureichend. Das Manöver habe zwar gezeigt, daß Rußland dort stärkere Kräfte konzentrieren könne, jedoch sei dies sehr aufwendig gewesen und habe den Rest der russischen Streitkräfte – insbesondere die Schwarzmeer- und Nordmeerflotte – von wichtigen Einheiten entblößt.



Nachwort

Jedem, der die sicherheitspolitische und militärtheoretische Diskussion in den NATO-Staaten ein wenig verfolgt, werden viele Elemente von Wostok-2010 bekannt vorkommen. Das Ansinnen von politischer und militärischer Führung, das rußländische Militär zu verschlanken und gleichzeitig zu modernisieren erscheint löblich. Es gibt jedoch Grenzen der Übernahme von fremden Ideen, insbesondere wenn sie von Seemächten (im geopolitischen Sinne) wie den Vereinigten Staaten oder Großbritannien entwickelt wurden. Im Gegensatz dazu ist Rußland eine klassische Landmacht, mit großer territorialer Ausdehnung und langen Grenzen. Und zu Lande muß Logistik anders organisiert werden als zu Wasser.

Das diesjährige Manöver war die Fortsetzung von mehreren kleineren Übungen im vergangenen Jahr. „Sapad-2009“ (dt.: West 2009) wurde, wie der Name schon sagt, in den westlichen Landesteilen gemeinsam mit Belarus durchgeführt; „Kawkas-2009“ (dt.: Kaukasus 2009) u.a. waren hingegen eine rein russische Angelegenheit. Im nächsten Jahr wird sich dieser Kreis mit der Übung „Zentr-2011“ (dt.: Mitte 2011) schließen, die vermutlich in Westsibirien, dem Verantwortungsgebiet des zukünftigen OSK Mitte, stattfinden wird.



Bibliographie und weiterführende Links:

D. Gorenburg: Vostok-2010: Another step forward for the Russian military

I. Kramnik: „Wostok 2010“: Härtetest für erneuerte Armee

I. Kramnik: Seemanöver: Russland braucht mehr Kriegsschiffe

A. Chramtschichin: Njeadekwatnyj „Wostok“

N.N.: Serdjukow nje weljel ustrajwat wojnu dwuch armij

N.N.: Testing Army Reforms in Vostok-2010

N.N.: Battalion Travels Lighter in Mobilnost Redux

N.N.: Old Weapons Good Enough, or Worn Out?

N.N.: Not Enough Officers in ‘New Type’ Brigades?

I. Kramnik: Brennpunkt Zentralasien: Was Russlands Armee drohen kann

M. Chapman: Naturally Kurilly

O. Grizenko: Kurilskaja pretensija

Großmanöver „Ost-2010“ (weitere Materialien von RIA Nowosti)

Berichte und Videos des Fernsehsenders Swesda vom Manöver

A. Chramtschichin: Tschetyrje wektora rossijskoj oboronoj

A. Chramtschichin: Milliony soldat pljus sowremennoje woorushenije



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Karte: mapsof.net; Fotos: RIA Nowosti.

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