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Sonntag, 20. Juni 2010

Aufruhr in Kirgisistan


Die vergangenen Monate waren voller überraschender Wendungen für die Beobachter der politischen Ereignisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Im Mai/Juni-Heft der Zeitschrift Internationale Politik erschien eine Abhandlung von Antje Kästner und Julia Bader, in dem behauptet wurde, daß Rußland autoritäre Regime in Eurasien stützen würde, wobei der ehemalige kirgisische Staatschef Kurmanbek Bakijew als Beispiel galt. Selbiger Aufsatz war freilich bei seinem Erscheinen schon veraltet, denn in der ersten Aprilhälfte war es in Kirgisistan zu gewalttätigen Unruhen gekommen, in deren Folge Bakijew abdanken mußte. Er, der 2005 durch die sog. Tulpenrevolution an die Macht gekommen war, wurde von seinem Volk auf dieselbe Art und Weise wieder aus dem Amt gejagt. Als Übergangspräsidentin übernahm Rosa Otunbajewa die Macht.
Bald danach kamen neue Gerüchte auf, die vor allem von englischsprachigen Medien verbreitet wurden: Der Aufstand, welcher zu Bakijews Sturz geführt hatte, sei von Moskau initiiert worden, um die geopolitische Stellung der USA zu schwächen. Irgendwelche Belege dafür ließen sich zwar nicht finden, doch gilt offenbar mancherorts die Grundregel, daß Putin und Medwedew im Zweifelsfall immer die Bösen sind.

Nun sind in den letzten Wochen im Süden Kirgisistans, im Ferghanatal rund um die Stadt Osch neue Unruhen aufgeflammt, die einen stark ethnischen Anstrich trugen und sich zuvörderst gegen die dort lebende usbekische Minderheit von fast einer Dreiviertelmillion Menschen richteten. Das Ferghanatal war bereits 1990 Schauplatz zwischen-ethnischer Gewaltausbrüche, die nur durch längere und massive Präsenz der damals noch sowjetischen Sicherheitskräfte zur Ruhe gebracht werden konnten. Tausende bedrohter Usbeken wurden damals über eine Luftbrücke in andere Teile der UdSSR ausgeflogen, wo viele von ihnen noch heute leben.

Nach Ausbruch der neuerlichen Unruhen in Osch und Dschlalabat sind erneut Spekulationen über eine vermeintliche Beteiligung Rußlands ins Kraut geschossen. Würde man diesen Moden folgen, dann ergäbe sich folgendes Bild: Moskau stützt Bakijew, läßt ihn dann fallen, um Otunbajewa an die Macht zu verhelfen, und sechs Wochen später wird wiederum Bakijew unterstützt, der aus seinem Exil in Minsk zum gewaltsamen Kampf gegen die Übergangsregierung aufgerufen haben soll. Das macht alles furchtbar viel Sinn. Man sollte endlich akzeptieren, daß in den Staaten Mittelasiens eigene politische Prozesse ablaufen, die weder von Washington noch von Moskau, weder von Brüssel noch von Peking gesteuert werden können. Das Ausland kann sich bestenfalls mit den Ergebnissen dieser Prozesse arrangieren. (Und es würde mich nicht wundern, wenn die jetzige Hoffnungsträgerin Otunbajewa in einigen Jahren das gleiche Schicksal wie Bakijew ereilen würde.)



Jetzt zu den Unruhen selbst. Meine Kenntnisse der Verhältnisse in Zentralasien sind - ebenso wie die verfügbaren Informationen - sehr beschränkt, weshalb ich zunächst aus einem äußerst lesenswerten Artikel auf NewEurasia.net zitieren möchte:
"[...]

As Managing Editor of neweurasia, I want to take a moment to address something that’s been concerning me throughout the crisis in Southern Kyrgyzstan, namely, the conflation of speculation with fact, ultimately and especially regarding the issue of blame and the problem of evil. To begin with, this is what the international journalistic community thinks it knows and only that: as affirmed by the United Nations’ High Commissioner for Human Rights, it appears that gangs of masked men attacked, in an organized and premeditated fashion, Uzbek and Kyrgyz targets in Osh.

That’s all we know right now. Even the Commissioner is unsure as to these gangs’ intentions, although it’s more than reasonable to conclude they were seeking to provoke a reaction. More importantly, we don’t know who they are. There is no smoking gun — yet. In its place there are a lot of theories buzzing around, everything ranging from Russian special forces to secret agents of the Bakiyev network. But these are only theories at the moment. Until we have hard evidence, e.g., a confession, one that meets international standards of propriety, we do not know what was the plan behind these attacks.

I must remind everyone, especially certain Westerners, that this is not some board game of Risk or hermetically sealed thought experiment in a military lab. The city of Osh has been burned down. The old methodology of identifying likely suspects by who would profit the most from a situation simply doesn’t work. Let’s use the Bakiyev network as an example: even if they didn’t expect the violence to get so out of control, why would they have taken the risk knowing that the interim government would likely blame them anyway? And that’s exactly what has happened, by the way.

That leads me to the next important point: the scale of the violence clearly indicates that there is no easy villain in this. You cannot blame Bakiyevists, mafiosos, Russian special services, Islamist terrorists, or space aliens for the immense and gratuitous bloodletting of the past week. Some bloggers have tried to argue that the extremism of the violence couldn’t have come from “mere” ethnic tension, but they underestimate that there are some chasms in the human soul that are too dark for decency.

That means you also cannot conveniently blame the Kyrgyz military, nation-state, or the entire ethnic group, either. You want to call this a “genocide” and a “conspiracy”? Until you can offer me rigorous proof of a systematic basis for the tragedy, I as a journalist and an academic won’t allow you to call it that. Why? Because truth is what is at stake, and at stake in truth is justice and real human lives.

[...]"
Die Ereignisse an sich sind schlimm genug, da müssen nicht noch dramatische (Verschwörungs-)Theorien erfunden werden. Zur weiteren Vertiefung möchte ich auf die hervorragenden Webseiten bzw. Blogs New Eurasia und Registan sowie die entsprechende Rubrik von RIA Nowosti verweisen, die an Sachkenntnis und Landeskunde schwer zu übertreffen sind.



Nun zu einem anderen Thema. Wie sollen die Unruhen erstickt werden? Vor einer Woche hatte die kirgisische Übergangsregierung zunächst in Washington angefragt, ob die USA zumindest "Riot control"-Ausrüstung liefern könnten. Dies ist abschlägig beschieden worden. Danach wurde die rußländische Regierung um die Entsendung von Truppen in die Unruheregion gebeten. Auch dies ist bis heute nicht erfolgt. Dies wird z.T. sehr kontrovers diskutiert - siehe z.B. "Russia’s Osh Test", "Explosion of violence in Kyrgyzstan: Moscow wins?" und "Konflikt in Kirgistan: Was muss Russland jetzt tun?" (die Lektüre dieser drei Texte wird empfohlen).

Die Lage in Osch und Umgebung ist auch für Moskau höchst unübersichtlich. Da ist der ethnische Konflikt, da sind ordinäre kriminelle und Drogenhändler, da ist die Möglichkeit einer usbekischen Militärintervention im Nachbarland, da sind geopolitische Faktoren wie etwa das Verhältnis zu den USA, wo eine russische Intervention womöglich als "Muskelspiel des Kremls" verurteilt würde. Und zumindest in Usbekistan sind auch islamistische Gruppen aktiv.
Mithin hatte die russiche Regierung auf eine breit angelegte Regelung im Rahmen der Organisation des Vertrages für kollektive Sicherheit (OVKS) angestrebt. Die OVKS hat sich in den letzten Jahren auf ähnliche Szenarien vorbereitet, u.a. indem Anti-Terror-Übungen durchgeführt und gemeinsame Krisenreaktionskräfte gebildet wurden. Doch aus einer gemeinsamen Intervention zur Unterstützung der kirgisischen Übergangsregierung wird anscheinend nichts. Die Gremien der OVKS haben getagt (es hat sogar Konsultationen mit der NATO gegeben), doch zu einem Marschbefehl konnte man sich nicht durchringen.

Die Absage aus Belarus kam nicht überraschend, denn die weißrussische Regierung verfolgt seit Jahren eine äußerst defensive und zurückhaltende Sicherheitspolitik, die Kampfeinsätze von Truppen außerhalb des eigenen Staatsgebietes de facto ausschließt. Entscheidend dürfte die Weigerung Kasachstans gewesen sein, einer Intervention zuzustimmen. Das Land grenzt im Süden sowohl an Usbekistan als auch an Kirgisistan, weshalb ihm in jedem Fall eine wichtige Rolle zukäme (Überflugrechte, Truppentransit usw.). Zu mehr als humanitären Hilfslieferungen für die abertausenden Flüchtlinge, der Entsendung einer Beobachtergruppe (inkl. nachrichtendienstlicher Zusammenarbeit) und weiterer technischer Unterstützung hat es nach derzeitigem Stand nicht gereicht. Und angesichts des Abflauens der Unruhen könnte sich das Thema ohnehin bald erledigt haben.

Das zeigt - neben gewissen politischen Befindlichkeiten (Bakijews Asyl in Belarus) und völkerrchtlichen Rücksichtnahmen (Stichwort: innerer Konflikt, vgl. auch Artikel 5 der OVKS-Charta) - auch die praktischen Schwierigkeiten bei der Eindämmung solcher Unruhen. Mit ausländischer Militärpräsenz alleine wäre es ja nicht getan, diese Kräfte müßten auch handeln. Doch was sollten sie angesichts der komplexen kirgisischen Gemengelage tun? Massenhafter Schußwaffeneinsatz gegen nur teilweise bewaffnete Randalierer wäre vielleicht zielführend, verbietet sich aber aus rechtlichen und ethischen Erwägungen. Und wie kommt man aus diesem Sumpf wieder heraus, wenn man einmal darin involviert ist? (Aus guten Gründen verzichten auch die USA auf ein militärisches Eingreifen, obwohl sie in Kirgisistan eine Luftwaffenbasis unterhalten.)





Am 15. Juni stellte sich das wie folgt dar:
"[...]

Bei einem Treffen mit Russlands Präsident Dmitri Medwedew gab OVKS-Generalsekretär Nikolai Bordjuscha zu verstehen, dass die Entsendung von Friedenstruppen nicht erwogen werde. Beim Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) sagte Medwedew, eine Intervention von OVKS-Truppen in Kirgisien sei nicht geplant, doch am Sonnabend wandte sich die kirgisische Übergangsregierungschefin Rosa Otunbajewa mit der Bitte an Russland, in den Süden Kirgisiens Friedenssoldaten zu entsenden. Dafür sprach sich auch der gestürzte Präsident Kurmanbek Bakijew aus.

Laut OVKS-Satzung werden Friedenseinsätze in den Mitgliedsländern der Organisation von den Präsidenten gefasst, und zwar unter Berücksichtigung der nationalen Gesetzgebung und nach einer offiziellen Bitte des betreffenden Mitgliedsstaates. Nach Otunbajewas Bitte könnten Friedenssoldaten entsendet werden, doch wolle sich niemand in diese Situation verwickeln lassen, sagt Wladimir Scharichin, Vizedirektor des Moskauer GUS-Instituts: Die Entsendung eines Truppenkontingents wäre eine extreme Maßnahme.

Der russische Politologe Alexej Wlassow ist der Ansicht, die Entsendung der Friedenstruppen müsse als Konsens beschlossen werden - es müssen also alle sieben Präsidenten der OVKS-Länder dafür stimmen. Die Meinungen der Experten würden auseinandergehen, meint Wlassow. Einige von ihnen hofften, die OVKS werde die Differenzen überwinden und die Entsendung von Friedenssoldaten beschließen, was jedoch nicht der Fall gewesen sei: Was gehen die Ereignisse im fernen Kirgisien Armenien oder Weißrussland an?

[...]"
Die Entscheidung, die Übergangsregierung materiell und begrenzt personell zu unterstützen statt eigene Soldaten nach Kirgisien zu entsenden, war möglicherweise besser. Die kirgisischen Sicherheitskräfte kennen ihre "Pappenheimer" und können mit ihnen entsprechend umgehen. Ausländische Truppen wecken immer negative Emotionen unter den Einheimischen und werden somit leicht zur Zielscheibe von Anschuldigungen oder gar Angriffen. Zudem wäre ein Eingreifen von außen - wie das Beispiel von 1990 lehrt - langwierig und kostspielig und sein Ende möglicherweise unabsehbar. Schließlich wird sich die kirgisische Regierung - sofern es tatsächlich gelingt, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen - von ihrem Volk nicht vorwerfen lassen müssen, daß sie nur eine Marionette des Auslands sei und ihre Macht auf den Bajonetten fremder Truppen beruhe.





Abschließend noch eine Beobachtung über den Verlauf der Unruhen und die Bewaffnung der Randalierer. Medienberichte und Fotos aus Osch zeigen eindeutig, daß die Gewalttäter zunächst fast nur mit improvisierten Waffen wie Metallrohren, Speeren, Messern u.ä. ausgerüstet waren (siehe auch das obige Video). Erst die Erstürmung von Polizeistationen und Armeekasernen führte zum massenhaften Auftauchen von Schußwaffen in ihrer Hand. Mithin war es - wie schon zuvor in vielen Bürgerkriegen - nicht etwa ein laxes Waffenrecht oder privater Waffenbesitz, der zu der hohen Zahl von Opfern beigetragen hat. Vielmehr waren es die offenbar unzureichend gesicherten Behördenwaffen. Man könnte jetzt versuchen, noch weitere Lehren aus den tragischen Ereignissen zu ziehen, doch wären diese angesichts der schwierigen Informationslage reine Spekulation.


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Fotos: RIA Nowosti; Karte: Wikipedia.

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