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Donnerstag, 11. Februar 2010
Wahlspiele in der Ukraine
Die politische Lage in der Ukraine ist seit der "Orangenen Revolution" 2004 immer spannend gewesen und hatte bisweilen einen echten Unterhaltungswert. Bedauerlich ist nur, daß dies in den deutschen Medien meist sehr stereotyp verkauft worden ist. Da gab und hibt es sog. "pro-westliche" Politiker - gemeint sind der scheidende Präsident Viktor Juschtschenko und die Noch-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko - und andererseits sog. "pro-russische" Politiker, womit vor allem auf den vermutlichen Wahlsieger Viktor Janukowitsch abgestellt wird. Doch die Situation in der Ukraine ist erheblich komplexer und wird durch solche extrem simplifizierenden Adjektive nicht einmal ansatzweise korrekt erfaßt.
Hier ist jetzt (leider) nicht der Platz, um eine vollständige Korrektur des medialen Zerrbildes zu leisten; ich muß mich mit einigen kurzen Stichpunkten begnügen.
Die Figur Timoschenko ist doch ziemlich schillernd (um es milde auszudrücken). Diese Frau scheint mir nicht einmal ansatzweise von ideologischen Motiven, sondern ausschließlich vom Willen zur persönlichen Macht getrieben. (Noch viel stärker, als wir es von deutschen Berufspolitikern gewöhnt sind.) Das führt einserseits zu einem ausgeprägten Sinn für Realpolitik (was sie von Juschtschenko unterscheidet), andererseits war Timoschenko in häufig wechselnden Koalitionen zu finden. Im Frühjahr 2007 hat sie beispielsweise in Foreign Affairs noch für eine Eindämmung Rußlands durch die USA plädiert, ein Jahr später ist sie hingegen für eine gedeihliche Kooperation mit der RF in der Gasfrage eingetreten, während Juschtschenko auf stur geschaltet und im Januar 2009 die Pipelines nach Mittel- und Westeuropa zugedreht sowie die Unterzeichnung eines neuen bilateralen Vertrages wochenlang blockiert hat. (Ganz zu schweigen von seinen zahlreichen Drohungen gegen die Regierungschefin.)
Andererseits war sich Juschtschenkos Partei nicht zu fein, kurz vor der Stichwahl mit Janukowitschs Partei der Regionen zusammenzuarbeiten, um das Wahlgesetz zu ändern. Das mag andeuten, wie unscharf ein Begriff wie "pro-westlich" im Kontext der ukrainischen Politik ist. Überhaupt: Was soll dieser Begriff denn aussagen? Was ist denn der "Westen"? Nichts mehr als ein höchst unscharfes Konstrukt, mehr Ideologie denn Realität (vgl. D. Gress: "From Plato to Nato"). Etwas deutlicher ist da schon die Kennzeichnung Timoschenkos als "pro-europäisch". Doch ist diese Zuordnung ebenfalls nicht zutreffend, hat die Ministerpräsidentin doch im Wahlkampf erklärt, sie wolle die Seegrenze zum benachbarten Rumänien (immerhin EU- und NATO-Mitglied) neu ziehen. Insofern dürfte Timoschenkos Wahlniederlage auch für die EU besser sein.
Andererseits ist die Titulierung Janukowitschs als "pro-russisch" maßlos übertrieben. Er wird vermutlich im Kulturbereich die von seinem Amtsvorgänger forcierte "Ukrainisierung" abschwächen. Denn immerhin ist die Sprache, die man heute Ukrainisch nennt, kaum 150 Jahre alt; sie ist nicht nur ein künstliches Konstrukt, sondern außerdem in vielen Teilen des Landes (vor allem im Osten und Süden) bis heute eine Fremdsprache geblieben. Dort spricht man seit altersher Russisch. Doch in hochpolitischen Fragen ist Janukowitschs Spielraum stark eingeschränkt (Stichworte: Wirtschaftskrise und Auslandsverschuldung; siehe dazu auch diese gute Analyse). Die Ukraine hängt finanziell am Tropf des IWF, weshalb dieser einen Gutteil von Janukowitschs Politik bestimmen wird und kein grundstürzender Politikwechsel zu erwarten ist. Vielmehr dürfte Janukowitschs Wahl einen Wechsel des politischen Stils bedeuten: weg von hektischen Emotionen, hin zu einer ruhigen Sachpolitik.
Zudem lehrt das Beispiel des bereits seit 1999 existierenden Unionsstaates zwischen Rußland und Belarus, wie eng begrenzt alle Versuche einer Reintegration im postsowjetischen Raum sind. Wenn manche europäischen und amerikanischen Autoren von der angeblichen Gefahr einer Wiederherstellung der Sowjetunion reden, dann gehen sie lediglich den Blütenträumen einiger Hinterbänkler von einer "Sammlung der slawischen Erde" auf den Leim. In der Realität steht dergleichen nicht zur Debatte. Die schablonenhafte Vorstellung, es gehe in der Ukraine um eine Art Zweikampf zwischen dem (lichten) "Westen" und (dem finsteren) Rußland ist absurd und wird den (geo-) politischen und ökonomischen Gegebenheiten des Landes nicht einmal ansatzweise gerecht.
Dennoch wird sich Janukowitsch stärker als seine "orangenen" Vorgänger um ein gedeihliches Verhältnis zu Moskau bemühen. Das ist jedoch nicht Ausdruck finsterer Absichten, sondern Zeugnis seines Realitätssinnes. Denn der etwa von Timoschenko angestrebte EU-Beitritt der Ukraine würde fast zwangsläufig dazu führen, daß zwischen beiden Staaten die gegenseitige Visapflicht eingeführt würde. Das würde für viele Familien, die Verwandte im jeweils anderen Land haben, erhebliche Erschwernisse mit sich bringen. Was sollen diese Menschen im Gegenzug mit dem möglicherweise visafreien Reiseverkehr in die EU-Staaten anfangen?
Dasselbe Problem stellt sich auch auf volkswirtschaftlicher Ebene. Heute werden ukrainische Staatsbürger als Bürger aus einem GUS-Staat bevorzugt behandelt, wenn es z.B. um die Erteilung von Arbeitserlaubnissen geht. Das würde wohl zwangsläufig wegfallen. Und welcher EU-Staat wäre im Gegenzug bereit, großzügig ukrainische Arbeitskräfte aufzunehmen?
Beispiel Tourismus: Die Krim ist seit Jahrzehnten das bevorzugte Urlaubsziel vieler Russen (und anderer ehem. Sowjetbürger). Wie wollte die dortige Wirtschaft den eventuellen Ausfall dieser Kunden kompensieren? Wären wirklich so viele Deutsche bereit, statt nach Mallorca auf die Krim zu fahren?
Man kommt nicht um die Feststellung herum, daß die kulturellen, ökonomischen und familiären Verbindungen zwischen der Ukraine und Rußland sehr viel enger sind als die mit der EU. Vom Wahlsieger Janukowitsch ist in Zukunft eine Politik zu erwarten, die diesen Tatsachen verstärkt Rechnung trägt. Wir Mittel- und Westeuropäer dürften damit auch einen weiteren, ganz handfesten Vorteil haben: Denn die seit Jahren zu einer sehr häßlichen Neujahrstradition gewordenen Streitigkeiten um den Transit von Erdgas und Erdöl sollten hinfort der Vergangenheit angehören. Vorbei die Zeiten, als Politiker aus der EU nach Kiew reisen mußten, um mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche um die Sicherstellung der europäischen Gasversorgung zu "werben".
Positive Folgen sind auch für die deutsche Wirtschaft zu erwarten. Juschtschenko hat mehrfach ein unangenehmes Doppelspiel getrieben, indem er parallel mit europäischen und amerikanischen Unternehmen verhandelt hat, um im Zweifelsfall letzteren den Vorzug zu geben. (Ob es insoweit wohl einen Zusammenhang mit seiner Ausbildung in den USA und seiner Ehe mit einer Amerikanerin gibt?)
Am deutlichsten wird sich der anstehende Wechsel im Präsidentenamt in der Außen- und in der Geschichtspolitik auswirken. Juschtschenkos Vision eines NATO-Beitritts der Ukraine ist im Volk immer äußerst unpopulär gewesen und wird jetzt ad acta gelegt. Juschtschenko hat sich zu einer Neutralitätspolitik bekannt. Der Verzicht auf den Beitritt zur EU dürfte den Europäern sehr gelegen kommen, schließlich hat man mit den "armen Schluckern" im eigenen Haus schon genug Probleme.
Geschichtspolitisch erwarte ich, daß Janukowitsch von der von seinem Vorgänger betriebenen Heroisierung von NS-Kollaborateuren Abstand nehmen wird. So hatte der noch amtierende Präsident vor kurzem den Separatisten und Terroristen Stepan Bandera zum Helden der Ukraine erklärt, was weltweite Proteste hervorgerufen hat. Die polnische Regierung verurteilte diesen Schritt und man verwies in Warschau darauf, daß das Todesurteil eines polnischen Gerichts gegen Bandera aus den 1930er Jahren nach wie vor rechtskräftig sei. Bandera war damals am Attenat auf einen polnischen Minister beteiligt. In Polen soll es sogar zu Protestdemonstrationen gekommen sein. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum und andere jüdische Funktionäre erinnerten an die Beteiligung Banderas und seiner Organisationen OUN und UNA bei der Vernichtung der ukrainischen Juden während der deutschen Besetzung im 2. WK.
Dies ist ebenfalls ein Thema, welches viele deutsche Medien wohlweislich verschwiegen haben, um den Mythos des angeblich "pro-westlichen" Juschtschenko nicht zu beschmutzen. Und es spricht Bände über die "pro-westliche" Julia Timoschenko, daß sie sich ausgerechnet um Unterstützung durch die Nachfolger der OUN/UPA bemüht hat.
Bleibt zu hoffen, daß Janukowitsch diese Entscheidungen seines Vorgängers, die – gelinde gesagt – zu Irritationen geführt haben, revidiert und sich um die Aussöhnung der beiden Landesteile bemüht, um deren Spaltung sich Juschtschenko so sehr bemüht hat. Denn es war ausgerechnet dieser einstmals strahlende Held der "orangenen Revolution", dessen Politik die Ukraine in die internationale Isolierung treiben könnte – allen NATO- und EU-Ambitionen zum Trotz. Das Schicksal des gewesenen Präsidenten zeigt die Differenz zwischen der Wahrnehmung dieses Mannes im Ausland und im Inland.
Doch der Wahlkrimi scheint noch nicht zu Ende zu sein. Obwohl alle internationalen Beobachter von einer fairen Wahl sprechen und bereits mehrere Staatschefs Janukowitsch zum Wahlsieg gratuliert haben, weigert sich Timoschenko beharrlich, ihre Niederlage einzugestehen. Statt dessen behauptet sie, es habe massive Fälschungen zu ihren Ungunsten gegeben – was nicht einmal mehr ihre eigenen Anhänger überzeugt. Dennoch scheint sie das Wahlergebnis gerichtlich anfechten zu wollen (für Massendemonstrationen wie 2004/2005 fehlt ihr jetzt jedoch das Fußvolk). Hoffentlich ändert sie ihre Haltung schnell, sonst kommt das Land nach mehreren turbulenten Jahren immer noch nicht zur Ruhe und die endlos scheinende Serie von Anschuldigungen und Schlammschlachten geht in eine neue Runde.
Über die neuesten Schach- und Winkelzüge der ukrainischen Politik kann sich der geneigte Leser zeitnah hier und hier informieren; dort passiert zu viel, als daß ich an dieser Stelle vollständig darüber berichten könnte.
Nachtrag: Zwei eher witzige Aspekte muß aber noch vermelden. Nachdem Timoschenko behauptet hatte, ihr Gegner Janukowitsch plane einen Putschversuch, hat der Ukrainische Sicherheitsdienst (SBU; ebenfalls eine Nachfolgebehörde des KGB), der bisher treu zu Juschtschenko stand, erklärt, daß dies keineswegs den Tatsachen entspreche. Und am 5. Februar ist ein georgischer Staatsbürger, der mit Sprengstoff und Schußwaffen ausgerüstet war, festgenommen worden. Was der wohl wollte?
Sollte sich jemand noch weiter in die Lage in der Ukraine vertiefen wollen, dann kann ich das folgende Video empfehlen:
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Grafik: Wahlkreisergebnisse des Präsidenten-Stichwahl am 07.02.2010; blau = Janukowitsch, pink = Timoschenko (Quelle: Wikipedia).
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