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Sonntag, 20. Dezember 2009

Im Morgengrauen ist es noch still

In den vergangenen zwei Wochen war es mir möglich, die Neuverfilmung des Klassikers „A sori sdes tichie“ (dt. Titel: Im Morgengrauen ist es noch still) anzusehen. Der Roman von Boris Wassiljew war erstmals im Jahre 1972 verfilmt worden, damals in zwei Teilen mit Spielfilmlänge. 2005 wurde dann eine chinesisch-russische Koproduktion in Angriff genommen, die aus fernsehgerechten zwölf Teilen à 45 Minuten besteht.

Zur Handlung: Ein karelisches Dorf im Frühjahr und Sommer 1942; am Ortsrand befindet sich eine Flakstellung, die von einer Besatzung aus jungen Soldatinnen neu bemannt wird. Das bringt für den Ortskommandanten, einen altgedienten Hauptfeldwebel, allerlei Herausforderungen. Zudem sind die weiblichen Kanoniere nicht unbedingt die besten Soldaten und möchten ihr Kriegshandwerk auf die Flugabwehr beschränken. Wozu muß man als „Senitschik“ mit einem Gewehr umgehen können? Beide Filme berichten von den Anpassungsproblemen der vielen jungen Frauen, die sich nach Kriegsbeginn 1941 in der Sowjetunion zu den Fahnen gemeldet hatten. (Man könnte es auch nennen: Das Problem des Erwachsenwerdens. ;-)) Andererseits wird der alte Soldat durch den Umgang mit den jungen Frauen zwangsläufig ein wenig „ziviler“ - in welcher rein männlichen Kaserne würde er z.B. vor dem Eintreten anklopfen?




Der spannende Teil kommt freilich in der zweiten Hälfte: In der Nähe des Dorfes wird per Fallschirm ein deutscher Kommandotrupp abgesetzt. Dessen Absichten bleiben unklar, aber ein kleiner Trupp, bestehend aus dem Kommandanten und fünf Soldatinnen, nimmt die Verfolgung auf. Zunächst geht es durch ein Moorgebiet und danach durch die typisch nordischen Waldgebiete. Als sich allerdings herausstellt, daß die Deutschen etwa um das dreifache überlegen sind, beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen beiden Seiten. Die Sowjets versuchen, einem Gefecht auszuweichen, aber trotzdem nicht die Fühlung zu verlieren.

Eine Soldatin wird zurück ins Dorf geschickt, um Verstärkung zu holen. Leider verliert sie die Orientierung und kommt im Moor um, nur wenige Meter vom rettenden Ufer entfernt. Eine zweite läuft, unter Zurücklassung ihres Gewehrs, durch den Wald, um einen zurückgelassenen Tabakbeutel zu holen. Auch sie kehrt von ihrem „Ausflug“ nicht lebend zurück, sondern fällt im Nahkampf. Eine dritte ist der Belastung psychisch nicht gewachsen, wirft plötzlich ihr Gewehr weg und versucht, mitten durch das Lager der Deutschen hindurch, zu fliehen. Ebenfalls tot. Für das große Gefecht bleiben also nur noch drei Mann übrig – und die schlagen sich bravourös. Doch am Ende wird es auf seiten der Sowjets nur einen, natürlich verwundeten Überlebenden geben: den Hauptfeldwebel.




Insgesamt eine berührende Geschichte, die auch zum Nachdenken anregt. Wie kam es zu diesem hohen Blutzoll? Wohl vor allem durch den Mangel an Ausbildung und Vorbereitung, der durch guten Willen (und Ideologie) allein nicht zu ersetzen ist. Wie orientiert man sich im Gelände? Wie verhält man sich, wenn unmittelbar mit Feindberührung zu rechnen ist? Mitten im Krieg gelten auch für Studentinnen andere Regeln als im tiefsten Frieden an der Uni.

Wenn man sowohl die klassische sowjetische Verfilmung als auch die neue chinesisch-russische gesehen hat, erhebt sich naturgemäß die Frage, welche besser gefällt. Ich bin geneigt zu sagen: die jüngere. Zwar hat der Klassiker für sich, daß er die Handlung etwas kompakter und stringenter darstellt. Doch die Neuverfilmung geht stärker ins Detail, und stellt auch Nebenaspekte dar, was natürlich den Unterhaltungswert steigert. Dafür fehlt ihr der Appell an den Patriotismus der Jugend, welcher in der SU-Fassung stark ist (was m.E. allerdings keinen Minuspunkt darstellt). Und man merkt, daß sie vornehmlich für ein asiatisches Publikum gedacht ist (Wassiljews Buch genießt ich China wohl Kultstatus), denn manche Szenen wirken auf einen Europäer einfach nur komisch.




Erheblich kritisieren muß man freilich die in der Neuverfilmung verwendete Waffentechnik, bei der es das chinesische Fernsehen nicht so genau genommen hat. Daß sowjetischerseits bereits Mosin-Nagant-Karabiner M 1944 geführt werden, könne man vielleicht noch entschuldigen. Aber daß den Deutschen anstatt der MP 40 amerikanische M 3 „Grease Guns“ in die Hand gedrückt werden, ist unverzeihlich. Von weiteren Uniform- und Ausrüstungsdetails der deutschen Seite will ich jetzt gar nicht erst reden. Zudem ist es lächerlich, wie aus einem ordinären Karabiner mittels eines offenkundigen Billig-Zielfernrohrs, das auf die Kimme montiert wird, ein Scharfschützengewehr gemacht werden soll – ohne Einschießen natürlich.

Dennoch lohnt es sich, beide Filme anzusehen, zumal es die Erstverfilmung auch in deutscher Sprache gibt. Ich halte beide für mit die besten Kriegsfilme sowjetischer bzw. russischer Provenienz, denn sie verfügen über eine gute Mischung aus nachdenklichen und Action-Szenen. Die Erstverfilmung ist online auch mit englischen Untertiteln greifbar (Teil 1 beginnt hier, Teil 2 hier); die Neufassung kann man z.B. hier erwerben.
Die ersten beiden Videos in diesem Beitrag stammen aus dem 72er Film, die beiden letzten aus der neuen Serie.




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