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Donnerstag, 10. Dezember 2009

Ein Buch, von dem man besser die Finger läßt

In der Regel weise ich an dieser Stelle auf Bücher hin, die mir bemerkenswert erscheinen und die ich meinen Lesern empfehlen möchte. Heute soll - ausnahmsweise - vor einem Buch gewarnt werden, das ich für unsachlich und somit schlecht halte.

Wolfgang Leonhard gilt im deutschsprachigen Raum als einer der besten Kenner von Kommunismus und Stalinismus sowie der früheren Sowjetunion. Berühmt wurde er durch sein erstmals 1955 erschienenes Buch "Die Revolution entläßt ihre Kinder". So könnte denn mancher interessierte Zeitgenosse versucht sein, auch zu Leonhards neuesten Werk mit dem Titel "Anmerkungen zu Stalin" zu greifen. Davon will ich jedoch ausdrücklich abraten, denn die Faktenbasis, auf der seine Argumentation aufbaut, ist außerordentlich dünn.
Das Buch beginnt in etwa mit den gleichen Sätzen wie die Verlagswerbung:
"[...]

In Putins Russland feiert eine historische Figur ein erstaunliches Comeback: Bei einer Volksumfrage wurde Josef Stalin jüngst zum «größten Helden der russischen Geschichte» gewählt. In dem Land, in dem auch wieder die alte Stalin-Hymne gesungen wird, droht die Erinnerung an die Greuel zu verblassen, wird einer der schlimmsten Diktatoren des letzten Jahrhunderts gern in mildem Licht gesehen, als Patriot und Garant nationaler Stärke.

[...]"
Damit bedient Leonhard zwar die populäre These einer angeblichen Stalin-Renaissance im heutigen Rußland, allein, die von ihm dort als Belege für diese bedenkliche Entwicklung angeführten Tatsachen stimmen nicht!
Erstens: Aus der vor rund einem Jahr im Fernsehen durchgeführten Umfrage nach dem bedeutendsten Russen der Geschichte ging nicht Josef Stalin, sondern Alexander Newskij als Sieger hervor (siehe auch hier).
Zweitens: Bei der im Jahr 2000 eingeführten Nationalhymne der RF handelt es sich nicht um eine "Stalin-Hymne", sondern um die Kombination aus der alten (und sehr eingängigen) Musik von Alexander Alexandrow und dem neugedichteten Text von Sergej Michalkow. Die neue Hymne ist populär und hat das seit 1991 anhaltende, m.E. würdelose Gezerre um eine Nationalhymne für das postsowjetische Rußland beendet (zur Entwicklung vgl. hier). Glinkas "Patriotisches Lied" konnte nie Rückhalt im Volk gewinnen, zumal es über keinen Text verfügt. Letzterer ist für eine Nationalhymne jedoch von entscheidender Bedeutung, denn eine Melodie allein hat etwas beliebiges.

Wenn Leonhards Grundannahmen schon so falsch sind, wie soll denn in seinem neuen Buch daraus eine vernünftige und realistische Darstellung werden? Ich weiß es ehrlichgesagt nicht, denn nach der Lektüre der ersten Seiten habe ich es wieder weggelegt. Dennoch bleiben erhebliche Zweifel. Es ist nicht das erste Mal, daß mich Wolfgang Leonhard enttäuscht hat. Viele seiner in den letzten Jahren publizierten Bücher sind doch erstaunlich fade und blutleer; sie wirken wie der dritte oder vierte Aufguß seines Klassikers "Die Revolution entläßt ihre Kinder". Dazu kommen vielleicht auch gewisse Alterserscheinungen, vor denen auch der von mir sonst hochverehrte Peter Scholl-Latour nicht gefeit ist.

So will ich heute mit einem Rat an meine Leser schließen: Wer etwas von Leonhard lesen will, der ist mit seiner klassischen Arbeit von der Revolution, die ihre Kinder entläßt, mit Abstand am besten bedient. Seine "Anmerkungen zu Stalin" sind jedenfalls Geldverschwendung und dürften inhaltlich kaum über das in seinem Erstlingswerk bereits gesagte hinausgehen.


PS: Zum Schluß ein Video mit einer etwas rockigeren Version der soeben diskutierten Nationalhymne, interpretiert von der Gruppe "Ljube".




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