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Montag, 10. August 2009

"Aufzeichnungen eines Jägers"

Dieter Stahmann hat in seinem Buch "Weidgerecht und nachhaltig" die Jagderzählungen Iwan S. Turgenjews als "unerreichtes Vorbild" für die deutsche Jagdliteratur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gelobt. Turgenjew (der sich später in Deutschland niederlies) sei hierzulande wegen seines zwischen Realismus und Romantik schwankenden Naturempfindens stark rezipiert worden. Dies war für mich Grund genug, mir die "Aufzeichnungen eines Jägers" zuzulegen, zumal ich bis dahin noch nichts von Turgenjew gelesen hatte. Lediglich eine Hörbuchfassung seines Romans "Väter und Söhne" war mir bekannt - und auch darin geht es u.a. um die Jagd.

Die "Aufzeichnungen" sind eine Sammlung von Erzählungen, in denen ein adliger Gutsbesitzer, der im zarischen Rußland zur Mitte des 19. Jahrhunderts lebt, als Ich-Erzähler auftritt. Er berichtet, mal mehr, mal weniger intensiv, von seinen Jagderlebnissen, wobei Turgenjew großen Wert auf die möglichst realistische Schilderung von Natur und Menschen gelegt hat. Es ist somit kein reines Jagdbuch, sondern auch eine Gesellschaftsskizze.
Der letztgenannte Aspekt wird heute gern überbetont, hatte Turgenjew doch deswegen Ärger mit der Zensurbehörde. Dennoch kann man den Erzählungen keine politischen oder gar aufrührerischen Schriften sehen. Die "Aufzeichnungen eines Jägers" sind ein gutes Buch, weil sie ein gutes Buch sind - und nicht, weil sie mit irgendeinem (ideologischen) Zeitgeist konform gehen.

(Die oberflächliche Politisierung von Kunst im allgemeinen und Literatur im besonderen ist mir schon während des Deutschunterrichts in der Schule übel aufgestoßen. Welchen Wert hat ein Kunstwerk, wenn es nur unter ganz bestimmten politischen Bedingungen gewürdigt werden kann? Die Geschichte ist voll von solchen Eintagsfliegen, man denke beispielsweise nur an den "Bitterfelder Weg".)

Bei der Lektüre ist mir am Rande aufgefallen, wie unproblematisch im Zarenreich der Waffenbesitz selbst der bis 1861 leibeigenen Bauern war. Sollten oder wollten sie Wild erlegen, dann durften sie das tun, sogar auf den Ländereien anderer Eigentümer. Und sie konnten dabei selbstverständlich auch Waffen führen. Sogar ein politischer Häftling wie Lenin (seiner Herkunft nach ebenfalls Gutsbesitzer und keineswegs Proletarier) durfte, als er 1897 für drei Jahre ins sibrische Schuschenskoje verbannt wurde, eine Flinte mitnehmen und dort auf die Jagd gehen. Das gibt mir zu denken ...

Auf Amazon.de sind verschiedene Ausgaben und Übersetzungen des erstmals 1852 erschienenen Werkes erhältlich; ebenso sind sie z.T. online greifbar. Ich habe mich für die von der Kritik gelobte Manesse-Ausgabe aus dem Jahre 2004 entschieden. Erstens wegen der Neuübersetzung von Peter Urban; zweitens, weil drei weitere "Jägerskizzen" Turgenjews erstmals ins Deutsche übertragen und dem Band hinzugefügt worden sind; und drittens wegen des kompakten Formats (15,5 x 10 cm, Hardcover), weshalb man das Büchlein immer in der Tasche mitführen kann, um unterwegs ein wenig darin zu lesen. Dies wird außerdem dadurch erleichtert, daß die einzelnen Erzählungen, die alle für sich stehen, meist nur etwa 20 Seiten lang sind.

Ein wenig Kritik muß ich allerdings auch hier üben. Ich halte es für eine Zumutung, wenn in einem belletristischen Werk die wissenschaftliche Transliteration statt der leichter lesbaren (Duden-)Transkription verwendet wird. Der Manesse-Verlag kann nicht davon ausgehen, daß alle Leser seiner Bücher Linguisten sind und sich mit diakritischen Zeichen auskennen. Damit wird die Lesbarkeit des Textes m.E. unnütz erschwert. Wenn man als Übersetzer unbedingt seine fachwissenschaftliche Kompetenz unter Beweis stellen will, sollte man es so halten wie Ludolf Müller in seinen Übersetzungen der Werke Wladimir Solowjows: Im Text selbst werden Eigennamen etc. transkribiert, in den Fußnoten und Anmerkungen hingegen transliterisiert.

Turgenjews "Aufzeichnungen eines Jägers" zählen für mich zu jenen Werken, bei denen man es bedauert, nicht früher auf sie aufmerksam geworden zu sein. Mit welchem neumodischen Müll sind wir bisweilen im Deutsch- und Russischunterricht auf dem Gymnasium traktiert worden (obwohl ich es - verglichen mit anderen Schulkameraden - noch gut hatte)! Aber solche Schätze hat man uns vorenthalten.


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