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Sonntag, 1. Februar 2009

Die Tragödie eines Volkes

In den vergangenen Wochen habe ich hier schon fünf kurze Auszüge aus dem fast 900 Seiten starken Buch "Die Tragödie eines Volkes" von Orlando Figes veröffentlicht. Was gibt es nun über dieses Werk insgesamt zu sagen? Es ist auf jeden Fall ein Standardwerk über die Epoche der russischen Revolution, zumindest im deutschsprachigen Raum. Der Autor kapriziert sich nicht auf einige Ereignisse, sondern behandelt ebenso ausführlich die Vorgeschichte der Revolution(-en) sehr ausführlich und spannt so einen Bogen von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Bürgerkrieg und in die Mitte der 1920er Jahre.

Figes gelingt es, die Staats-, Diplomatie- und Militärgeschichtsschreibung mit der Sozialgeschichte zu kombinieren, ohne dabei den (häufigen) Fehlgriff der letzteren zu begehen, indem nur eine Geschichtsschreibung "von unten" ohne rechte Verbindung zu den "großen Linien" geboten wird. Der Autor hat für seine Darstellung der russischen Revolutionen einen interessanten Ansatz gewählt. Sie sind für ihn keine "Geißel Gottes" oder ein Betriebsunfall der Geschichte, sondern das Ergebnis konkreter politischer Handlungen oder Unterlassungen. Dadurch werden die Ereignisse verständlich und nachvollziehbar, sind kein bloßes "Schicksal" mehr. Folglich gibt es in seinem Buch auch keine Unterscheidung in gut und böse (alle Beteiligten bekommen "ihr Fett weg"), stattdessen geht es darum, die Handlungslinien und die Motive der Akteure aufzuzeigen.

Wobei es für Leser mit sehr schematischen Geschichtsbildern unangenehme Erkenntnisse geben dürfte. Etwa dann, wenn die finnische Unabhängigkeitsbewegung mit dem Spruch "Lieber tot als rot" beschrieben wird. Das Gegenteil war 1917 der Fall: Die finnischen Bürgerlichen wollten mit der Provisorischen Regierung nur über eine Autonomie verhandeln, während es gerade die Linken waren, die auf die sofortige Unabhängigkeit setzten - um so möglichst schnell den Sozialismus aufbauen zu können.

Ansonsten kann man über ein so umfangreiches und gut geschriebenes Buch kaum mehr schreiben, ohne sich allzu sehr in Details zu verlieren. Kurzum: Wer sich für dieses Kapitel der Geschichte interessiert, wird an Figes' Buch kaum vorbeikommen.


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