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Dienstag, 30. Dezember 2008

Selbsthaß



Dieser Tage bin ich dabei, endlich Orlando Figes' Werk über "Die Tragödie eines Volkes" abzuschließen. Soviel läßt sich schon jetzt sagen: Wer sich für die Geschichte Rußlands zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und den 1930er Jahren interessiert, wird an diesem Buch nicht vorbeikommen. Vor einer "richtigen" Besprechung werde ich in den nächsten Tagen wohl noch ein paar ausgewählte Zitate einstellen und kommentieren.

Beginnen wir mit einem unangenehmen Thema: dem ausgeprägten Selbsthaß von Teilen der russischen Intelligenzija. Haß auf die eigene Herkunft, das eigene Volk und Land, dessen Geschichte usw., der eine lange Tradition hat. Man kann ihn immer wieder erleben und muß dazu nicht einmal nach Rußland reisen. Nein, die Vertreter dieser Meinung - Sonja Margolina, Michail Ryklin und wie sie alle heißen - kommen zu uns und finden hier sogar ein geneigtes Publikum - vor allem unter denjenigen, die die Russophobie benötigen, um ihre eigenen Komplexe zu kompensieren. Jener Typ der Intellektuellen hat in der russischen Geschichte meist keine positive Rolle gespielt, wie ihre zahlreiche Verwicklung in Umsturz- und Terroraktivitäten belegt.
Figes schreibt dazu (S. 145):
"Viele [der nihilistischen Studenten Ende des 19. Jh.] waren relativ bescheidener Herkunft - Söhne von Priestern, wie Tschernyschewski, oder aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten [...] - so daß sich bei ihnen das Gefühl für Rußlands Wertlosigkeit durch ihr eigenes Gefühl der Unterprivilegiertheit verstärkte. Tschernyschewski äußerte sich zum Beispiel häufig haßerfüllt und voller Schamgefühl über die Rückständigkeit der Provinz Saratow, wo er aufgewachsen war. "Besser gar nicht geboren, als als Russe geboren", schrieb er einmal. Es gab eine lange Tradition nationalen Selbsthasses unter der russischen Intelligenzija, der daher rührte, daß sie ohne jede Verbindung zum einfachen Volk war und sich immer am Westen ausgerichtet hatte."
Wenn man die geschichtspolitischen Fragen in diesem Kontext betrachtet, relativiert sich vieles, was mit viel Verve vorgetragen wird, von ganz alleine.
Vor drei Jahren hatte auch ich Gelegenheit, diesen (Un-)Geist ganz direkt kennenzulernen: Während eines Gesprächs äußerte eine junge, in Deutschland lebende Russin plötzlich, daß es doch das beste wäre, wenn man alle Russen töten würde. Am ganzen Tisch herrschte erschrockenes Schweigen. Erst auf die Nachfrage, ob sie das denn ernst meine und daß man dann ja sogleich mit ihr beginnen könne, kam die Antwort, daß dies ein Scherz gewesen sei.

Abschließend noch ein Zitat des Literaturkritikers Belinskij von 1847, das Figes wiedergibt und das auch heute noch Gültigkeit beanspruchen kann. Es geht um die Zusammenarbeit Intellektueller mit dem Staat (S. 143 f.):
"Deshalb schenkt man bei uns jedem sogenannten liberalen Trend, selbst bei geringster Begabung, so viel Aufmerksamkeit, und deshalb sinkt auch die Popularität großer Dichter, die sich - ob aufrichtig oder nicht - in den Dienst der [...] Autokratie [...] stellen, so rasch."
Besagte Intellektuelle waren es auch, die einem Beamten bisweilen "aus Prinzip" den Handschlag verweigerten, da dieser den grundsätzlich zu bekämpfenden Staat vertrat. Eine feine Opposition. ;-)


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